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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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demokratisch gewählten marxistischen Präsidenten scheißen sie sich in die Hosen! Warum lassen sie uns nicht in Ruhe, warum lassen sie uns nicht einfach weiterleben, sagte er, und eine Minute lang war sein Blick fast flehend oder beschwörend, als hätte ich irgendeine Macht über die Dunkelmänner am Steuer des schwarzen Schiffs aus meinem Land. Er hatte einen stark vorspringenden Adamsapfel, der bei jedem Schlucken in seiner Kehle tanzte, und jetzt schien er unentwegt zu tanzen, wie ein ins Meer geworfener Apfel. Ich wusste nicht viel über das, was in Chile vor sich ging, zumindest damals nicht, noch nicht. Eineinhalb Jahre später, nachdem Paul Alpers mir gesagt hatte, Daniel Varsky sei mitten in der Nacht von Manuel Contreras’ Geheimpolizei abgeholt worden, wusste ich es. Aber im Winter 1972, als ich im letzten Abendlicht in seiner Wohnung an der 101st Street saß, während General Augusto Pinochet Ugarte noch der steife, kriecherische Oberkommandierende des Heeres in Santiago de Chile war, der sich von den Kindern seiner Freunde anbiedernd Tata nennen ließ, wusste ich nicht viel.
    Seltsamerweise kann ich mich nicht erinnern, wie die Nacht (mittlerweile war es schon eine gewaltige New Yorker Nacht) endete. Offenbar muss es so gewesen sein, dass wir uns verabschiedet haben und ich dann gegangen bin, oder vielleicht haben wir die Wohnung zusammen verlassen, und er hat mich zur Subway begleitet oder mir ein Taxi gerufen, da die Gegend, oder die Stadt überhaupt, damals nicht sicher war. Ich habe einfach keinerlei Erinnerung daran. Ein paar Wochen später hielt ein Umzugswagen vor meiner Wohnung, und die Männer luden die Möbel aus. Zu diesem Zeitpunkt war Daniel Varsky schon in seine Heimat Chile zurückgekehrt.
    Zwei Jahre vergingen. Anfangs bekam ich Postkarten. Zuerst waren sie herzlich, ja gelöst: Alles bestens. Ich glaube, ich werde der Chilenischen Gesellschaft für Höhlenforschung beitreten, aber keine Bange, das wird mein dichterisches Streben nicht behindern, wenn überhaupt, werden sie einander befruchten. Vielleicht habe ich das Glück, mir einen Mathematik-Vortrag von Parra anzuhören. Politisch ist die Hölle los, wenn ich nicht zu den Höhlenforschern gehe, gehe ich zur MIR. Pass gut auf Lorcas Schreibtisch auf, eines Tages komme ich zurück und hole ihn ab. Besos, D. V. Nach dem Putsch wurden sie düster, dann kryptisch, und schließlich, ungefähr sechs Monate ehe ich erfuhr, dass er verschwunden war, kamen keine mehr. Ich habe sie alle in einer Schublade seines Schreibtischs aufbewahrt. Ich schrieb nicht zurück, weil es keine Adresse gab. In jenen Jahren habe ich noch Gedichte geschrieben, und ich schrieb einige an oder für Daniel Varsky. Meine Großmutter starb und wurde in irgendeinem Vorort so weit außerhalb begraben, dass niemand sie mehr besuchen konnte. Ich ging mit etlichen Männern aus, wechselte zweimal die Wohnung und schrieb meinen ersten Roman am Tisch von Daniel Varsky. Manchmal vergaß ich ihn monatelang. Ich weiß nicht, ob ich schon von der Villa Grimaldi wusste, mit ziemlicher Sicherheit hatte ich noch nichts von der Calle Londres 38 oder den Cuatro Álamos gehört, auch nicht von der Discoteca, die man wegen der dort verübten sexuellen Gräuel und der lauten Musik, die von den Folterern bevorzugt wurde, Venda Sexy nannte, aber auf jeden Fall wusste ich genug, dass ich zu anderen Zeiten, wenn ich, wie so oft, auf Daniels Sofa eingeschlafen war, Albträume darüber hatte, was sie ihm antaten. Manchmal schaute ich mich um, ließ den Blick über seine Möbel wandern, das Sofa, den Schreibtisch, den kleinen Kaffeetisch, die Bücherregale und Stühle, und war von niederschmetternder Verzweiflung erfüllt, manchmal empfand ich nur eine verdeckte Traurigkeit, und manchmal sah ich mir das alles an und war plötzlich überzeugt, dass es ein Rätsel enthielt, ein Rätsel, das er mir hinterlassen hatte und das ich lösen sollte.
    Hin und wieder habe ich Leute getroffen, meistens Chilenen, die Daniel Varsky kannten oder von ihm gehört hatten. Nach seinem Tod erlangte er kurzen Ruhm, er zählte zu den Dichtern, die als Märtyrer gestorben waren, von Pinochet zum Schweigen gebracht. Aber natürlich hatten diejenigen, die Daniel gefoltert und getötet haben, nie seine Gedichte gelesen, womöglich wussten sie nicht einmal, dass er überhaupt welche schrieb. Ein paar Jahre nachdem er verschwunden war, fragte ich mit Paul Alpers’ Hilfe brieflich bei Daniels Freunden an, ob sie

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