Das große Haus (German Edition)
Besitzer, als gäbe er nicht ein paar Holz- und Polstermöbel an mich weiter, sondern die Chance zu einem neuen Leben, wobei er es mir überließ, die Gelegenheit zu ergreifen. Es ist mir peinlich zu sagen, aber mir schossen Tränen in die Augen, Euer Ehren, obgleich die Tränen, wie es oft so ist, älteren, dunkleren Gründen entsprangen, die ich verdrängt hatte und die durch das Geschenk, die Überlassung der Möbel eines Fremden, irgendwie aufgebrochen waren.
Wir müssen mindestens sieben oder acht Stunden geredet haben. Vielleicht länger. Wie sich herausstellte, liebten wir beide Rilke. Auch Auden mochten wir beide, ich allerdings mehr als er, und keiner von uns machte sich viel aus Yeats, aber beide hatten wir deswegen insgeheim Schuldgefühle, für den Fall, dass es eine Art persönliches Versagen in jenen Sphären verriet, in denen die Poesie lebt und etwas bedeutet. Die einzige Unstimmigkeit gab es, als ich auf Neruda zu sprechen kam, den einzigen chilenischen Dichter, den ich kannte, was Daniel mit einem Wutausbruch quittierte: Muss das sein?, fragte er. Immer dasselbe auf der ganzen Welt? Wohin ein Chilene auch gehen mag – Neruda war schon da mit seinem Muschelscheiß und hat ein Monopol errichtet. Er starrte mir in die Augen und wartete auf meinen Widerspruch; dabei überkam mich das Gefühl, es müsse dort, wo er herkam, gang und gäbe sein, so zu reden, wie wir redeten, und sogar über Dichtung mit leidenschaftlicher Heftigkeit zu streiten, und ich spürte einen Anflug von Einsamkeit. Aber nur kurz, dann sprang ich auf, um mich zu entschuldigen, und schwor hoch und heilig, die abgekürzte Liste großer chilenischer Dichter zu lesen, die er mir auf die Rückseite einer Papiertüte kritzelte (ganz oben, in Großbuchstaben, die den Rest überschatteten, stand Nicanor Parra), und ich schwor auch, dass mir der Name Neruda nie wieder über die Lippen kommen würde, weder in seiner noch in anderer Leute Gegenwart.
Dann sprachen wir über polnische Poesie, über russische Poesie, über türkische, griechische, argentinische Poesie, über Sappho und die verlorenen Notizbücher von Pasternak, über den Tod Ungarettis, den Selbstmord Weldon Kees’ und das Verschwinden Arthur Cravens, der Daniel zufolge noch am Leben war, in guten Händen bei den Huren von Mexico City. Aber manchmal, in der Senke oder Mulde zwischen einem ausschweifenden Satz und dem nächsten, zog eine dunkle Wolke über sein Gesicht, zögerte einen Augenblick, als wollte sie verweilen, und huschte dann vorbei, um sich hinten im Raum zu verflüchtigen, und in diesen Momenten hatte ich fast das Bedürfnis, mich abzuwenden, denn wir hatten zwar eine Menge über Poesie gesprochen, aber noch kaum etwas über uns selbst gesagt.
Irgendwann sprang Daniel auf und durchwühlte den Schreibtisch mit den vielen Schubladen, machte welche auf und welche zu, auf der Suche nach einem Gedichtzyklus, den er geschrieben hatte. Der Titel war Vergiss alles, was ich je sagte oder so ähnlich, und er hatte den Zyklus selbst übersetzt. Er räusperte sich und begann laut zu lesen, mit einer Stimme, die bei jemand anderem vielleicht affektiert oder sogar komisch gewirkt hätte, angehaucht von einem leichten Tremolo, aber aus Daniels Mund klang sie vollkommen natürlich. Er entschuldigte sich nicht, versteckte sich auch nicht hinter den Seiten. Ganz im Gegenteil. Er richtete sich wie ein Pfosten auf, als zöge er Kraft aus dem Gedicht, und hob häufig den Blick, so häufig, dass mir der Verdacht kam, er habe auswendig gelernt, was er geschrieben hatte. In einem dieser Momente, als wir uns bei einem Wort Auge in Auge trafen, wurde mir bewusst, dass er eigentlich recht gut aussah. Er hatte eine große Nase, eine große chilenisch-jüdische Nase, große Hände mit dünnen Fingern und große Füße, aber zugleich hatte er etwas Zartes an sich, das irgendwie von seinen langen Wimpern oder seinen Knochen kam. Das Gedicht war gut, nicht großartig, aber sehr gut, vielleicht sogar besser als sehr gut, das war schwer zu sagen ohne die Möglichkeit, es selbst zu lesen. Anscheinend ging es um ein Mädchen, das ihm das Herz gebrochen hatte, aber es hätte ebenso gut ein Hund sein können; auf halbem Weg verlor ich den Faden und begann daran zu denken, wie R jeden Abend seine kleinen Füße wusch, ehe er ins Bett ging, weil der Boden in unserer Wohnung schmutzig war, und wenn er mir auch nie sagte, ich solle meine waschen, war das stillschweigend inbegriffen, denn hätte ich es
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