Das große Haus (German Edition)
Taxifahrer los und ließ den staunenden Rumänen auf der Straße stehen.
Das Lagerhaus befand sich in Flussnähe. Ich roch den Schlick, und am schmutzig grauen Himmel hielt der Wind Seemöwen in der Luft. Die junge Frau hinten im Büro lackierte sich die Fingernägel. Als sie mich sah, schraubte sie das Fläschchen zu. Ich setzte mich auf den Stuhl vor ihrem Tisch. Sie richtete sich auf und stellte das Radio leiser. Einer Ihrer Lagerräume ist auf den Namen Leah Weisz eingetragen, sagte ich. Es steht nichts drin außer einem Schreibtisch. Ich gebe Ihnen tausend Dollar, wenn Sie mir erlauben, eine Stunde lang daran zu sitzen.
Sie wird niemals Kinder haben, meine Tochter. Ich weiß es schon seit langem. Das Einzige, was sie je aus sich herausgelassen hat, sind Töne. Sie fing an, als sie noch ein Kind war: ding dong ding dong. Etwas anderes kann sie nicht produzieren. Aber Joav – er hat etwas Unbeantwortetes in sich, und ich weiß, für ihn wird es eine Frau geben, vielleicht viele Frauen, in die er sich ergießen wird, um eine Antwort darauf zu finden. Eines Tages wird ein Kind geboren werden. Ein Kind, das aus der Vereinigung einer Frau mit einem Rätsel stammt. Und eines Abends, während das Baby in seinem Zimmer schläft, wird seine Mutter draußen vor dem Fenster eine Präsenz spüren. Abgespannt in ihrem milchbefleckten Morgenrock, wird sie zuerst denken, es sei nur ihr Spiegelbild gewesen. Doch einen Augenblick später wird sie diese Präsenz wieder spüren und dann, plötzlich angsterfüllt, das Licht ausschalten und ins Kinderzimmer eilen. Oben auf dem Stapel der winzigen weißen Kleider des Babys wird die Mutter einen Umschlag mit seinem Namen finden, der in einer kleinen, ordentlichen Handschrift geschrieben sein wird. Der Umschlag wird einen Schlüssel und die Adresse eines New Yorker Lagerhauses enthalten. Und draußen, im dunklen Garten, wird sich das nasse Gras langsam wieder aufrichten und die Fußspuren meiner Tochter verwischen.
Ich öffnete die Tür. Der Raum war kalt und hatte kein Fenster. Im ersten Moment glaubte ich fast, mein Vater sei über den Schreibtisch gebeugt und ließe seine Feder über das Papier fliegen. Aber der gewaltige Tisch stand allein da, stumm und verständnislos. Drei oder vier Schubladen waren halb offen, alle leer. Aber die eine, die ich als Kind abgeschlossen hatte, war sechsundsechzig Jahre später immer noch verschlossen. Ich streckte die Hand aus und strich mit den Fingern über die dunkle Oberfläche. Es gab ein paar Kratzer, aber sonst keine Spuren von denen, die daran gesessen hatten. Ich kannte den Moment nur allzu gut. Wie oft hatte ich ihn bei anderen beobachtet, und doch war ich jetzt beinahe überrascht: erst die Enttäuschung und dann die Erleichterung, dass endlich etwas von mir abfiel.
Tief empfundenen Dank schulde ich dem Dorothy and Lewis B. Culman Center for Scholars and Writers an der New York Public Library, der Rona Jaffe Foundation und der American Academy in Berlin für ihre freundliche Unterstützung, Letzterer auch dafür, dass sie mir ein ruhiges Arbeitszimmer zur Verfügung stellte, als ich es am dringendsten brauchte. Rafis Geschichte von der Betrachtung des Niemandslandes in Jerusalem stammt aus Sophie Calles Projekt Eruv . Mein Bericht über Jochanan ben Zakkai ist an Rich Cohens Israel Is Real angelehnt.
Informationen zum Buch
Über Jahrzehnte jagt der jüdische Kunsthändler Georg Weisz den Habseligkeiten nach, die seiner Familie vor dem Abtransport ins KZ geraubt wurden. Besessen von dem Wunsch, das grauenvolle Geschehen seiner Kindheit ungeschehen zu machen, baut er in seinem Haus in Jerusalem das Zimmer seines Vaters genau so nach, wie er es aus dem Vorkriegs-Budapest in Erinnerung behalten hat. Der Schreibtisch jedoch fehlt. Es ist ein klotziges, Unglück verheißendes Möbelstück, und seine verschiedenen Besitzer – die New Yorker Schriftstellerin Nadia, der chilenische Student Daniel, die deutsche Holocaustüberlebende Lotte – geraten in einen Strudel von Ereignissen, die sie mit Liebe, Verlust und Tod konfrontieren.
Nicole Krauss nimmt uns mit auf eine vertrackte Zeitreise in verschüttete Welten. Sie alle leuchten mit der Schärfe ihrer Erkenntnis, der Schönheit ihrer Bilder und der Prägnanz ihrer Kunst, die auslotet, was Sprache sagen kann – und wo sie letztlich schweigen muss. «Das große Haus» ist ein mitreißender Roman über die Gräuel und Schönheiten des 20. Jahrhunderts.
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