Das große Heft
gesehen. Ihr hier sein seit wann?
- Seit zwei Wochen.
- Ah! Ich gewesen auf Urlaub zu Hause, in mein Dorf. Viel lachen.
Wir fragen:
- Wie kommt es, daß Sie unsere Sprache sprechen?
Er sagt:
- Meine Mutter hier geboren, in euer Land. Bei uns arbeiten gekommen, Kellnerin in Kneipe. Meinen Vater kennenlernen, ihn heiraten. Wenn ich klein sein, meine Mutter eure Sprache mit mir sprechen. Euer Land und mein Land befreundete Länder. Gegen Feind gemeinsam kämpfen. Woher kommen ihr zwei?
- Aus der Großen Stadt.
- Große Stadt, viel Gefahr. Bum! Bum!
- Ja, und nichts mehr zu essen. Hier gut für Essen. Äpfel, Schweine, Hühner, alles. Ihr lange bleiben? Oder bloß Ferien?
- Wir bleiben, bis der Krieg aus ist.
- Krieg bald aus. Ihr hier schlafen? Bank nackt, hart, kalt. Hexe euch nicht wollen im Zimmer?
- Wir wollen nicht in Großmutters Zimmer schlafen. Sie schnarcht, und sie stinkt. Wir hatten Decken und Laken, aber sie hat sie verkauft.
Der Adjutant nimmt heißes Wasser aus dem Kessel auf dem Herd und sagt:
- Ich müssen Zimmer saubermachen. Oberst auch zurückkommen von Urlaub heute abend oder morgen früh.
Er geht hinaus. Ein paar Minuten später kommt er zurück. Er bringt uns zwei graue Militärdecken.
- Das nicht verkaufen alte Hexe. Wenn sie sein zu böse, ihr mir sagen. Ich, bum, bum, ich töte.
Er lacht wieder. Er deckt uns zu, löscht die Lampe und geht.
Tagsüber verstecken wir die Decken in der Dachkammer.
Übung zur Abhärtung des Geistes
Großmutter sagt zu uns:
- Hundesöhne!
Die Leute sagen zu uns:
- Hexensöhne! Hurensöhne!
Andere sagen:
- Schwachköpfe! Spitzbuben! Rotzbengel! Esel! Ferkel! Schweine! Gesindel! Luder! Kleine Scheißer! Galgenstricke! Mörderbrut!
Wenn wir diese Wörter hören, wird unser Gesicht rot, unsere Ohren dröhnen, unsere Augen brennen, unsere Knie zittern.
Wir wollen nicht mehr rot werden und zittern, wir wollen uns an die Beschimpfungen, an die verletzenden Wörter gewöhnen.
Wir setzen uns einander gegenüber an den Küchentisch und sagen uns, uns in die Augen sehend, immer gräßlichere Wörter.
Der eine:
- Mistkerl! Arschloch!
Der andere:
- Drecksack! Schweinehund!
Wir machen so lange weiter, bis die Wörter nicht mehr in unser Hirn dringen, nicht einmal mehr in unsere Ohren. Wir üben täglich etwa eine halbe Stunde, dann gehen wir durch die Straßen spazieren.
Wir richten es so ein, daß die Leute uns beschimpfen, und wir stellen fest, daß es uns schließlich gelingt, gleichgültig zu bleiben. Aber es gibt auch die alten Wörter. Unsere Mutter sagte zu uns:
Meine Lieblinge! Meine Süßen! Mein Glück! Meine allerliebsten Babys!
Wenn wir uns an diese Wörter erinnern, füllen sich unsere Augen mit Tränen.
Diese Wörter müssen wir vergessen, weil uns jetzt niemand solche Wörter sagt und weil die Erinnerung an sie eine zu schwere Last für uns ist.
Daher setzen wir unsere Übung auf andere Weise fort. Wir sagen:
- Meine Lieblinge! Meine Süßen! Ich liebe euch... Ich werde euch nie verlassen... Ich werde nur euch lieben... Immer... Ihr seid mein ganzes Leben...
Durch vieles Wiederholen verlieren die Wörter allmählich ihre Bedeutung, und der Schmerz, den sie in sich tragen, läßt nach.
Die Schule
Das hat sich vor drei Jahren zugetragen.
Es ist Abend. Unsere Eltern glauben, wir schlafen. Im anderen Zimmer sprechen sie über uns. Unsere Mutter sagt:
- Sie werden es nicht ertragen, getrennt zu sein.
Unser Vater sagt:
- Sie werden nur während der Schulstunden getrennt sein.
Unsere Mutter sagt:
- Sie werden es nicht ertragen.
- Es muß aber sein. Es ist notwendig für sie. Alle sagen es. Die Lehrer, die Psychologen. Anfangs wird es schwer sein, aber sie werden sich daran gewöhnen.
Unsere Mutter sagt:
- Nein, niemals. Ich weiß es. Ich kenne sie. Sie sind ein und dieselbe Person.
Unser Vater hebt die Stimme:
- Eben, das ist nicht normal. Sie denken zusammen, sie handeln zusammen. Sie leben in einer Welt für sich. In ihrer Welt. Das alles ist nicht sehr gesund. Es ist sogar beängstigend. Ja, sie ängstigen mich. Sie sind merkwürdig. Man weiß nie, was sie denken. Sie sind zu weit für ihr Alter. Sie wissen zuviel.
Unsere Mutter lacht:
- Du wirst ihnen doch nicht ihre Intelligenz vorwerfen!
- Das ist nicht komisch. Warum lachst du?
Unsere Mutter antwortet:
- Zwillinge machen immer Probleme. Das ist kein Drama. Es wird sich geben.
Unser Vater sagt:
- Ja, es wird sich alles geben, wenn man sie trennt.
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