Das große Heft
behandeln, und zwei Blatt Papier zur Verfügung.
Nach zwei Stunden tauschen wir unsere Blätter aus, jeder von uns korrigiert die Schreibfehler des andern mit Hilfe des Wörterbuchs und schreibt unten auf die Seite: »Gut« oder »Nicht gut«. Wenn es »Nicht gut« ist, werfen wir den Aufsatz ins Feuer und versuchen, dasselbe Thema in der nächsten Stunde zu behandeln. Wenn es »Gut« ist, können wir den Aufsatz in das Große Heft abschreiben.
Um zu entscheiden, ob es »Gut« oder »Nicht gut« ist, haben wir eine sehr einfache Regel: Der Aufsatz muß wahr sein. Wir müssen beschreiben, was ist, was wir sehen, was wir hören, was wir machen.
Zum Beispiel ist es verboten zu schreiben: »Großmutter sieht wie eine Hexe aus«, aber es ist erlaubt zu schreiben: »Die Leute nennen Großmutter eine Hexe.«
Es ist verboten zu schreiben: »Die Kleine Stadt ist schön«, denn die Kleine Stadt kann für uns schön und für jemand anders häßlich sein.
Auch wenn wir schreiben: »Der Adjutant ist nett«, ist das keine Wahrheit, weil der Adjutant vielleicht zu Gemeinheiten imstande ist, die wir nicht kennen. Wir werden also einfach schreiben: »Der Adjutant gibt uns Decken.«
Wir werden schreiben: »Wir essen viele Nüsse«, und nicht: »Wir lieben Nüsse«, denn das Wort »lieben« ist kein sicheres Wort, es fehlt ihm an Genauigkeit und Sachlichkeit. »Nüsse lieben« und »unsere Mutter lieben« kann nicht dasselbe bedeuten. Der erste Ausdruck bezeichnet einen angenehmen Geschmack im Mund und der andere ein Gefühl.
Die Wörter, die die Gefühle definieren, sind sehr unbestimmt, es ist besser, man vermeidet sie und hält sich an die Beschreibung der Dinge, der Menschen und von sich selbst, das heißt an die getreue Beschreibung der Tatsachen.
Unsere Nachbarin und ihre Tochter
Unsere Nachbarin ist weniger alt als Großmutter. Sie wohnt mit ihrer Tochter im letzten Haus der Kleinen Stadt. Es ist eine völlig verfallene Hütte, das Dach ist an mehreren Stellen durchlöchert. Ringsum ist ein Garten, aber er ist nicht bepflanzt wie Großmutters Garten. Es wächst nur Unkraut darin.
Die Nachbarin sitzt den ganzen Tag auf einem Schemel in ihrem Garten und sieht vor sich hin, man weiß nicht auf was. Abends oder wenn es regnet, nimmt ihre Tochter sie am Arm und führt sie ins Haus. Manchmal vergißt ihre Tochter sie oder ist nicht da, dann bleibt die Mutter die ganze Nacht draußen, bei jedem Wetter.
Die Leute sagen, daß unsere Nachbarin verrückt ist, daß sie den Verstand verloren hat, als der Mann, der ihr das Kind gemacht hat, sie verlassen hat.
Großmutter sagt, daß die Nachbarin bloß faul ist und lieber in Armut lebt, als sich an die Arbeit zu machen. Die Tochter der Nachbarin ist nicht größer als wir, aber sie ist ein bißchen älter. Tagsüber bettelt sie in der Stadt, vor den Kneipen, an den Straßenecken. Auf dem Markt liest sie das verfaulte Gemüse und Obst auf, das die Leute wegwerfen, und bringt es nach Hause. Sie stiehlt auch alles, was sie stehlen kann. Wir haben sie mehrmals aus unserm Garten verjagen müssen, wo sie Früchte und Eier zu stehlen versuchte.
Einmal überraschen wir sie dabei, wie sie Milch aus dem Euter einer unserer Ziegen trinkt.
Als sie uns sieht, steht sie auf, wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab, sie weicht zurück und sagt:
- Tut mir nichts!
Sie fügt hinzu:
- Ich kann sehr schnell laufen. Ihr fangt mich nicht. Wir schauen sie an. Zum erstenmal sehen wir sie von nahem. Sie hat eine Hasenscharte, sie schielt, sie hat Rotz an der Nase und in den Winkeln ihrer roten Augen gelben Dreck. Ihre Beine und Arme sind voller Pusteln.
Sie sagt:
- Man nennt mich Hasenscharte. Ich mag Milch.
Sie lächelt. Sie hat schwarze Zähne.
- Ich mag Milch, aber besonders gern sauge ich am Euter. Es ist gut. Es ist hart und weich zugleich.
Wir antworten nicht. Sie kommt näher.
- Ich sauge auch gern an was anderm.
Sie streckt die Hand aus, wir weichen zurück.
Sie sagt:
- Ihr wollt nicht? Ihr wollt nicht mit mir spielen? Ich möchte so gern. Ihr seid so schön.
Sie senkt den Kopf, sie sagt:
- Ihr ekelt euch vor mir.
Wir sagen:
- Nein, wir ekeln uns nicht vor dir.
- Ich verstehe. Ihr seid zu jung, zu schüchtern. Aber bei mir braucht ihr euch nicht zu genieren. Ich werde euch sehr lustige Spiele beibringen.
Wir sagen ihr:
- Wir spielen nie.
- Was macht ihr dann den ganzen Tag?
- Wir arbeiten, wir lernen.
- Ich, ich bettle, ich stehle und ich spiele.
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