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Das große Heft

Das große Heft

Titel: Das große Heft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agota Kristof
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Jeder Mensch muß sein eigenes Leben haben.
    Ein paar Tage später beginnen wir die Schule. Jeder in einer anderen Klasse. Wir setzen uns in die erste Reihe. Wir sind durch die ganze Länge des Gebäudes voneinander getrennt. Diese Entfernung zwischen uns erscheint uns ungeheuerlich, der Schmerz, den wir deswegen empfinden, ist unerträglich. Es ist, als habe man uns die Hälfte unseres Körpers weggenommen. Wir haben kein Gleichgewicht mehr, uns wird schwindlig, wir fallen, wir verlieren das Bewußtsein.
    Wir erwachen in der Ambulanz, die uns ins Krankenhaus bringt.
    Unsere Mutter holt uns ab. Sie lächelt, sie sagt: 
    - Ab morgen seid ihr in derselben Klasse.
    Zu Hause sagt unser Vater lediglich: 
    - Simulanten!
    Bald darauf geht er an die Front. Er ist Journalist, Kriegsberichterstatter.
    Wir gehen zweieinhalb Jahre zur Schule. Auch die Lehrer gehen an die Front; sie werden durch Lehrerinnen ersetzt. Später schließt die Schule, denn es gibt zuviel Alarm und Bombenangriffe.
    Wir können lesen, schreiben, rechnen.
    Bei Großmutter beschließen wir, ohne Lehrer weiterzulernen, allein.

Der Kauf des Papiers, des Hefts und der Bleistifte
    Bei Großmutter gibt es weder Papier noch Bleistift. Wir gehen welche holen in dem Geschäft, das »Bücher/Schreibwaren« heißt. Wir suchen ein Paket kariertes Papier aus, zwei Bleistifte und ein großes dickes Heft. Wir legen alles auf die Theke vor einen fetten Herrn, der dahinter steht. Wir sagen zu ihm:
    - Wir brauchen diese Sachen, aber wir haben kein Geld.
Der Buchhändler sagt:
- Was? Aber... man muß zahlen.
Wir wiederholen:
- Wir haben kein Geld, aber wir brauchen diese Sachen unbedingt.
Der Buchhändler sagt:
- Die Schule ist geschlossen. Niemand braucht Hefte und Bleistifte.
Wir sagen:
- Wir machen die Schule bei uns. Ganz allein, wir selber.
- Bittet eure Eltern um Geld.
    - Unser Vater ist an der Front, und unsere Mutter ist in der Großen Stadt geblieben. Wir wohnen bei unserer Großmutter, auch sie hat kein Geld. 
    Der Buchhändler sagt: 
    - Ohne Geld könnt ihr nichts kaufen.
    Wir sagen nichts mehr, wir schauen ihn an. Auch er schaut uns an. Seine Stirn ist feucht von Schweiß. Nach einer Weile schreit er:
    - Schaut mich nicht so an! Raus hier!
    Wir sagen:
    - Wir sind gewillt, einige Arbeiten auszuführen für diese Sachen. Ihren Garten gießen, zum Beispiel, Unkraut jäten, Päckchen austragen...
Er schreit wieder:
    - Ich habe keinen Garten. Ich brauche euch nicht! Und überhaupt, könnt ihr nicht normal reden? 
    - Wir reden normal.
    - In eurem Alter zu sagen: »gewillt, auszuführen«, ist das etwa normal?
- Wir sprechen korrekt.
    - Zu korrekt, ja. Ich kann eure Redeweise überhaupt nicht leiden! Auch nicht, wie ihr mich anschaut. Raus hier! 
    Wir fragen: 
    - Besitzen Sie Hühner, mein Herr?
    Er betupft sein weißes Gesicht mit einem weißen Taschentuch.
Er fragt, ohne zu schreien:
- Hühner? Wieso Hühner?
    - Weil, wenn Sie keine haben, wir über eine gewisse Anzahl Eier verfügen und sie Ihnen bringen können für diese Sachen, die uns unverzichtbar sind.
    Der Buchhändler schaut uns an, er sagt nichts. 
    Wir sagen:
    - Der Eierpreis steigt täglich. Der Preis für Papier und Bleistifte dagegen...
    Er wirft unser Papier, unsere Bleistifte, unser Heft zur Tür und brüllt:
    - Raus! Ich brauche eure Eier nicht! Nehmt das alles, und kommt nie wieder!
    Wir heben die Sachen sorgsam auf und sagen: 
    - Wir werden aber wiederkommen müssen, wenn wir kein Papier mehr haben oder wenn unsere Bleistifte verbraucht sind.

Unsere Studien
    Für unsere Studien haben wir das Wörterbuch unseres Vaters und die Bibel, die wir hier bei Großmutter gefunden haben, in der Dachkammer.
    Wir haben Unterrichtsstunden in Rechtschreibung, Aufsatz, Lesen, Kopfrechnen, Mathematik und Gedächtnisübungen.
    Wir benutzen das Wörterbuch für die Rechtschreibung und um Erklärungen zu erhalten, aber auch um neue Wörter zu lernen, Synonyme, Antonyme.
    Die Bibel dient uns zum laut Lesen, für die Diktate und für die Gedächtnisübungen. Wir lernen also ganze Teile der Bibel auswendig.
    Und so geht eine Aufsatzstunde vor sich:
    Wir sitzen am Küchentisch mit unsern karierten Blättern, unsern Bleistiften und dem Großen Heft. Wir sind allein.
Einer von uns sagt:
- Die Überschrift deines Aufsatzes ist: »Die Ankunft bei Großmutter«.
Der andere sagt:
    - Die Überschrift deines Aufsatzes ist: »Unsere Arbeiten«.
    Wir beginnen zu schreiben. Wir haben zwei Stunden, um das Thema zu

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