- Das Haus der kalten Herzen
werden. Kummer macht uns alt. Glück bringt uns Jugend. Und du, Mercy, bist nicht erwachsen geworden, denn Trajan hält euch – wie du langsam selbst begreifst – in einem tiefen Zauber gefangen. Er hat euch versteckt und hält euch in einem einzigen kleinen Zeitabschnitt fest, der sich ständig wiederholt.« Er hielt inne und musterte sie eingehend.
»Du siehst sehr dünn und müde aus«, sagte er. »Das Winterwetter bekommt dir nicht.«
»Wie ist es möglich, dass du mich sehen kannst und die anderen nicht?«
»Sie sind Marionetten in einem Stück, die ihre Rollen spielen. Ihr Geist nimmt deine Anwesenheit nicht wahr. Sie sind die Vergangenheit und du gehörst nicht in ihre Zeit, in ihr Kapitel der Geschichte.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich bin aus der Geschichte ausgebrochen. Ich habe dich hierher gebracht. Ich spiele dieses Spiel nicht mehr mit.«
»Warum? Vater sagt, du willst das Haus vernichten.«
Claudius antwortete nicht gleich. Schließlich atmete er tief durch. »Erzähl mir von deinem Tag, Mercy«, sagte er. »Wie es war, ehe du den Geist im Teich gesehen hast und alles anfing, sich aufzulösen.«
»Nacht«, sagte sie. »Kalter Winter. Raureif im Garten, ein Spaziergang draußen. Aurelia in der Küche, Unterricht bei Galatea. Geschichten mit Charity im Kinderzimmer.«
»Weißt du, wie lange diese Nacht schon andauert?«
»Du hast mir eingeredet, dass es hundert Jahre sind«, sagte sie.
»Du bist lebendig begraben worden. Du kannst dich nicht erinnern, wie alt du bist oder wie lange du schon in dem Haus lebst. Sie haben dich weggeschlossen … vom Tageslicht und vom Leben selbst. Du existierst nur. Und du hast keine Vorstellung von dem, was in der Vergangenheit war, und keine Erwartungen an die Zukunft. Ich möchte, dass du all das bekommst, Mercy. Klingt das wie Vernichtung?«
»Warum sollte Vater mich anlügen?«, sagte sie. »Will er denn nicht das Beste für uns?« ’
»Dein Vater hat Angst. Er hat keinen Lebensmut mehr.«
Mercy seufzte. Endlich Antworten, was für eine Erleichterung, auch wenn es Antworten von Claudius waren, dem Feind ihres Vaters, war das wie Wasser, mit dem man seinen Durst löschen konnte. Vielleicht war es illoyal, sich die Version der Ereignisse anzuhören, die Claudius vor ihr ausgebreitet hatte, aber Trajan wollte ihr ja nichts erzählen. Was sollte sie also sonst machen?
Sie runzelte die Stirn. »Aber du warst es doch«, sagte sie. »Du und Marietta, ihr habt uns in diese Lage gebracht. Stimmt das nicht?«
»Doch«, sagte Claudius. Seine Stimme veränderte sich gar nicht. »Diese Lage … ist eine Folge der Reaktion deiner Eltern auf meine Ehe mit Marietta.«
»Wo ist Thekla jetzt … in meiner Zeit?«
»Du kannst sie finden.«
»Ist sie … ist sie immer noch am Leben?« Hoffnung regte sich in ihr wie ein Flattern in der Brust.
Claudius schüttelte den Kopf. Das war eine seltsame Antwort. Was meinte er damit: ja oder nein?
»Warum gibst du mir keine klare Antwort?«, sagte sie wütend. »Wo ist meine Mutter?«
»Erst musst du sie ausfindig machen«, sagte Claudius. »Und davor den Schlüssel finden, mit dem man den Käfig aufschließen kann – und die Tyrannei der Tage beenden.«
»Du wolltest diesen Tag ewig währen lassen«, sagte Mercy.
»Ja. Aber jetzt möchte ich, dass auch er endet.« Claudius strich sich das Haar aus dem Gesicht. Einen Moment lang schwieg die Nachtigall. Dann begann sie wieder zu singen, lange, trillernde Töne. »Es war ein perfekter Augenblick«, sagte er. »Nichts wollen wir lieber, als solche Augenblicke einfangen und ganz festhalten. Aber wir müssen sie genießen und gehen lassen, im Hier und Jetzt leben, denn wenn sich nichts verändert, können wir ebenso gut tot und begraben sein.«
Mercy atmete den Duft von Geißblatt und Rosen ein.
»Wie bist du ausgebrochen, um mich zu suchen?«, sagte sie. »Und warum jetzt, nach so langer Zeit?«
»Meine Ehe endete mit Tod und Verlust«, sagte Claudius. »Ich habe so lange gebraucht, um mich mit den Ereignissen der Vergangenheit auszusöhnen.«
Mercy dachte an den Geist unter dem Eis und an Mariettas Gesicht unter Wasser.
»Wie ist es passiert?«, fragte sie. »Warum ist Marietta gestorben?«
Aber Claudius überhörte ihre Frage. Er machte weiter. »Viele Jahre habe ich die Ereignisse der Vergangenheit immer wieder durchlebt, bis die Gefühle verblassten und vergingen. Sogar dieser Tag war am Ende leer, die Gefühle waren fadenscheinig geworden. Ich habe Trajan
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