Santiago liegt gleich um die Ecke
Zum Warmwerden
Pilgern auf dem Jakobsweg : Dieses Thema hat sich in den vergangenen Jahren zu einem ausgesprochenen Kracher entwickelt. Bücher dazu füllen ganze Regale, selbst das Fernsehen interessiert sich dafür, Santiago-Heimkehrer werden auf Partys bewundert wie Marathonläufer mit einer Bestzeit unter drei Stunden, Vortragsveranstaltungen über staubige Wege in der nordspanischen Meseta sind so voll wie Autogrammstunden der FuÃball-Nationalmannschaft. Wie kommt das?
Nun: Wenn Sie dieses Buch â vielleicht im Buchladen, vielleicht bei einem Freund oder einer Freundin in der Küche oder auf Ihrem eigenen Sofa â durchgeblättert haben und inzwischen an dieser Stelle angekommen sind, spricht vieles dafür, dass Sie die Antwort längst wissen. Vielleicht haben Sie ja sogar wie ich vor meinem Aufbruch das Gefühl, dass es so nicht mehr weitergeht in Ihrem Leben.
Damit sind wir beide in guter Gesellschaft. Denn den Wunsch nach einer sinnstiftenden Auszeit teilen immer mehr Menschen â meiner Erfahrung nach gerade besonders kreative, aufgeschlossene Leute. Wachsende Zeitverdichtung bei denen, die Arbeit haben, Zukunftsängste und steigender Rechtfertigungsdruck bei denen, die â möglicherweise bewusst! â »zwischen zwei Projekten« stehen, bei allen das Gefühl, immer weniger Momente für sich selbst zu haben und die eigentlichen Bedürfnisse über den täglichen Stress aus den Augen zu verlieren: All das erzeugt bei vielen Menschen den Wunsch nach Stille. Den Wunsch, einmal innezuhalten und herauszufinden, was einem eigentlich wirklich wichtig ist. Den
Wunsch, zur Ruhe zu kommen. Dann fangen viele an, sich für den Jakobsweg zu interessieren. Ein Vertreter einer groÃen deutschen Jakobusbruderschaft sprach mir gegenüber einmal von einer »Graswurzelbewegung«, von einer echten Gegenbewegung zur zerstörerischen Berufswelt, der sich derzeit immer mehr Leute anschlieÃen.
Wer auf dem Jakobsweg pilgert, zeigt sich und anderen, dass er auf dem Weg nach innen ist.
Aber Moment: Wandern, um zur Ruhe zu kommen: Ist das nicht paradox? Nein â im Gegenteil: Einmal davon abgesehen, dass die Erfahrung eines allzu abrupten Wechsels zwischen jahrelangem Terminstress und der Bewegungslosigkeit in der absoluten Stille etwa eines Zen-Sesshins vergleichbar sein dürfte mit dem Gefühl, als rotglühendes Glas in Eiswasser geworfen zu werden, hat meditatives Gehen durchaus seinen Sinn, wenn man innere Stille finden und nachdenken möchte. Nicht nur Aristoteles hat im Gehen gegrübelt â auch Nietzsche meinte: »Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.« Wer wandert, erreicht nicht nur irgendwann ein Ziel, sondern erfährt, wenn er es richtig anfängt, auch eine Menge über sich selbst. Und lernt nebenbei, mit der Welt wieder in Gleichtakt zu kommen : weil Gehen nun mal unsere natürliche Fortbewegungsart ist. Und unsere Sinnesorgane darauf getrimmt sind, Eindrücke in genau dem Tempo zu verarbeiten, in dem wir sie beim Wandern â und nicht beim Rad- oder gar Autofahren! â aufnehmen. Und das Leben aus dem Rucksack â also die Erfahrung, mit dem auszukommen, was man auf dem Rücken tragen kann â vermag ebenfalls ungemein zu erden.
Der Jakobsweg ist ausdrücklich für kontemplatives Wandern gemacht. Warum? Ganz einfach: Natürlich gibt es objektiv betrachtet nicht allzuviel, was diesen
alten Pilgerpfad von anderen Wanderrouten unterscheidet â auÃer eben der Tatsache, dass die Leute, die sich darauf begeben, dies in aller Regel ganz bewusst tun, um etwas über sich herauszufinden. Das Geheimnis des Jakobswegs sind die Menschen, die diesem Weg folgen. Und ja: auch die, die (noch) an seinem Rand stehen â denn auch sie wissen inzwischen zumeist, warum man als Pilger unterwegs ist, auch wenn sie den Weg nie selbst gegangen sind. Mit vielen von ihnen ergeben sich äuÃerst fruchtbare Gespräche. Wer auf dem Jakobsweg pilgert, zeigt sich und anderen, dass er auf dem Weg nach innen ist. Pilgern heiÃt, loszugehen, um letztlich bei sich selbst anzukommen.
Die Renaissance des Pilgerns hat allerdings dazu geführt, dass die Zahl derjenigen, die sich den »klassischen« Jakobsweg zwischen Saint-Jean-Pied-de-Port und Santiago de Compostela unter die Stiefel nehmen, wächst wie der deutsche Schuldenberg: 2009 waren in Nordspanien fast drei Mal so viele Jakobspilger unterwegs wie im
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