Carolin - GesamtWerk
01 Im roten Kleid
01 Im roten Kleid
Was um Himmels willen fand sie nur an diesem Simon, dem stillen Mann mit der leisen Stimme, der viele Jahre älter als sie war? In seinem dunklen Haar schimmerten die ersten grauen Strähnen, er war groß und schlank, aber reichlich unsportlich. Seine Zeit, so hatte er erzählt, verbrachte er mit dem Schreiben von »Geschichten aller Art« und sein »bisschen Lebensunterhalt« finanzierte er mit irgendwelchen Nebenjobs, zurzeit eben hier bei der Messe der kleinen Stadt. Ein merkwürdiger Typ. Auf ihre Bitte hin hatte sie zuerst zwei »normale« Kurzgeschichten von ihm zum Lesen bekommen und nun war vor wenigen Stunden per E-Mail eine erotische Erzählung eingetrudelt, in der eine Frau mit Ketten gefesselt und von zwei Männern missbraucht wurde … Hm. Auch wenn die Frau unter den Misshandlungen nicht litt, sondern sie ihr Lust bereiteten, war es doch sehr verstörend, dabei aber auch unbegreiflich faszinierend. Carolin druckte die Geschichte aus und las sie mehrere Male in den nächsten beiden Tagen, dann schrieb sie Simon eine E-Mail, in der sie ihm mitteilte, dass ihr die Geschichte recht gut gefallen habe, und sie ihn fragte, ob es noch mehr davon gäbe.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Natürlich gäbe es noch einiges mehr und natürlich könne sie es lesen, allerdings unter einer Bedingung: Sie müsse ihm mitteilen, ob die Lektüre sie erregt habe. — Ach, wollte er etwa ein kleines Spielchen mit ihr anfangen? Was tun? Sich darauf einlassen und damit ein intimes Band knüpfen? Na ja, so schlimm war es ja nicht, menschliche Regungen, die jeder kannte und jede, warum sie nicht bekennen? Ja, schrieb sie ihm, die Geschichte habe sie erregt, das Lesen war sehr angenehm gewesen.
Zur Belohnung erhielt sie eine weitere Erzählung und las im Begleittext, dass eine Geschichte im Entstehen sei, deren Protagonisten sie kenne. Falls sie diese lesen wolle, müsse sie wieder eine Gegenleistung erbringen: Fast jeder Mensch und mithin fast jede Frau habe insgeheime Träume, Fantasien, verborgene Wünsche, die sie kaum jemandem anvertraue. Und er wolle nun von ihr wissen, ob es auch in ihr geheime Vorstellungen gab, und wenn ja, welcher Art sie seien. — Oh! Das war viel verlangt. Er hatte ja recht, es gab die schattengleichen Träume in den verborgenen Gebieten ihrer Seele, die immer im Zwielicht blieben, Wünsche, die plötzlich an Kontur gewannen und in den Vordergrund drängten, die nicht länger nur verwundert betrachtet werden wollten, sondern sich nach Erfüllung sehnten. Aber nein, das kam nicht infrage! Sie gingen niemanden etwas an, auch nicht diesen Simon! Doch waren sie beharrlich, ließen sich nicht verscheuchen, versprachen schöne Gefühle, wenn sie nur endlich mal jemandem offenbart würden. Also gut. Sie schrieb Simon, dass es in der Tat heimliche Träume in ihr gab und sie sich manchmal vorstelle — selten natürlich und keinesfalls ernst gemeint — mit wenig oder gar nichts an fremden Blicken ausgesetzt zu sein, vielleicht gar fremden Händen, die sie nicht abwehren könne, eine schaurige Vorstellung, aber irgendwie auch reizvoll. Beim Absenden der E-Mail fühlte sie sich seltsam aufgeregt, es war, als entsende sie ihre Seele in diese fremdartige Welt, die in Simons Geschichten entstand und in der es keinen Schutz für sie gab.
Einen ganzen Tag lang musste sie warten, bis sie im Postfach ihres Computers endlich eine E-Mail von ihm fand, angehängt eine Geschichte mit dem Titel »Im roten Kleid«. Vorbild der Protagonistin war zweifellos sie selbst, die Beschreibung passte auf sie und sogar der Name war der Gleiche. Es wurde das bisherige Geschehen geschildert, ihre elektronische Kommunikation und ihre Offenbarung, dann sah sie sich beim Fortschreiten der Handlung als willige Gespielin des Mannes, der eindeutig Simon war und von dem die fiktive Carolin sehr entwürdigend behandelt wurde, fast wie eine Hure … Verwirrt las sie die Geschichte ein zweites Mal. Dieses Mädchen, das sich so schamlos zur Befriedigung eines Mannes benutzen ließ, sollte sie selbst sein? Nein, so ließ sie nicht mit sich umspringen! Und doch, ohne dass sie es wollte, stellte sie sich vor, an ihrer Stelle zu sein, und es war eine fesselnde Vorstellung, die prickelnde Gefühle in ihr weckte … Sie tat sich mit der Antwort schwer und schrieb ihm schließlich nach langem Zögern, dass seine Geschichte zwar reizvoll sei in gewisser Weise, die geschilderte Carolin aber ganz
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