Das heilige Buch der Werwölfe
Geheimnis. Du kennst es nun auch. Jedenfalls so gut wie.«
»Von wegen«, sagte er. »Wer außer euch Werfüchsen weiß eigentlich noch davon?«
»Nur Auserwählte dürfen es wissen.«
»Und du hast keine Bedenken, es mir zu verraten?«
»Nein.«
»Warum nicht, wenn man fragen darf? Hältst du mich für auserwählt?«
»Nur der Geist kann das Geheimnis wirklich kennen. Und er muss es ohnehin vor niemandem verbergen. Er ist ja allein.«
»Wie allein?«
»Ganz allein. Einer in allen, und alle aus einem.«
»Und wer sind dann diese Auserwählten?«
»Auserwählt sind jene, die wissen, dass jeder Wurm, jeder Schmetterling und jeder Grashalm am Straßenrand ebenso auserwählt ist, nur gerade nichts davon weiß, und dass man sich sehr vorsehen muss, um keinen von ihnen versehentlich zu kränken.«
»Ich glaube, ich hab immer noch nicht begriffen, was Geist eigentlich ist«, sagte er.
»Das geht allen so. Obwohl andererseits alle im Bilde sind. Weil der Geist ja jetzt zum Beispiel vernimmt, was ich sage.«
»Ah ja«, sagte Alexander. »Verstehe … Das heißt: nicht so ganz. Aber ein Rest bleibt sowieso immer, wenn ich es richtig verstehe …«
»Bei Gott, jetzt hat ers!«, sagte ich. »Warum nicht gleich so.«
»Gut. Nehmen wir an, das Überwerwesen hätten wir. Was ist nun dieser Regenbogenstrom?«
»Die Welt um uns her«, sagte ich. »Du kannst doch Farben sehen, nicht? Blau, rot, grün? Sie entstehen und vergehen in deinem Geist. Das ist er, der Regenbogenstrom! Und ein jeder von uns ist in ihm das Überwerwesen.«
»Das hieße, wir sind schon drin?«
»Ja und nein. Einerseits ist das Überwerwesen von Anfang an im Regenbogenstrom. Andererseits wird es niemals dort eingehen können, denn der Regenbogenstrom ist eine Illusion. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch – du und die Welt, ihr seid ohnehin eins.«
»Aha«, sagte er. »Wer hätte das gedacht. Na gut, weiter.«
»Das Überwerwesen ist ein Himmelswesen. Ein Himmelswesen verliert zum Himmel niemals den Kontakt.«
»Was bedeutet das?«
»In dieser Welt ist alles Sand und Staub. Ein Himmelswesen denkt an das Licht, das den Staub sichtbar macht. Wohingegen der schwanzlose Affe sich und den anderen Sand in die Augen streut. Stirbt ein Himmelswesen, wird es folglich zu Licht. Stirbt ein schwanzloser Affe, wird er zu Staub.«
»Licht, Staub, ich weiß nicht«, entgegnete Alexander. »Da ist doch wohl noch ein bisschen mehr! So was wie Persönlichkeit. Du zum Beispiel hast sie ganz bestimmt, Füchslein. Fällt mir in letzter Zeit besonders auf … Willst du das bestreiten?«
»Diese Persönlichkeit mit all ihren Macken und Extravaganzen tanzt und springt wie ein Puppe im klaren Licht meines Geistes. Und je dümmer die Macken, desto strahlender das Licht, das ich immer wieder neu erfahre.«
»Jetzt sagst du selbst: mein Geist. Eben hast doch noch behauptet, es wäre nicht deiner.«
»So ist Sprache nun einmal beschaffen. Es ist die Wurzel, aus der die menschliche Beschränktheit in den Himmel wächst. Wir Werwesen haben darunter auch zu leiden, denn wir reden ja immerzu. Man kann gar nicht den Mund aufmachen, ohne zu irren. Es lohnt darum nicht, an den Wörtern herumzuklauben.«
»Na schön: Aber diese tanzende Puppe Persönlichkeit – das bist doch du?«
»Nein, das bin ich nicht. Ich fühle mich mit dieser Persönlichkeit nicht eins, ich bin durchaus keine Puppe. Ich bin das Licht, das die Puppe sichtbar macht. Aber Licht und Puppe sind auch nur Vergleiche, halte dich bitte nicht daran fest.«
»Hut ab, Füchslein«, sagte er, »das hast du alles fein gründlich ausklamüsert … Aber nun sag doch endlich mal, wie alt du eigentlich bist?«
»Alt genug«, sagte ich und wurde rot. »Das mit dem Hund und dem Löwen nimm mir bitte nicht krumm. Es ist eine klassische Allegorie, wirklich uralt, glaub mir. Der Hund schaut auf den Stock, der Löwe auf den Werfer. Wenn man das begriffen hat, lassen sich übrigens auch unsere Zeitungen viel leichter lesen …«
»Das mit dem Hund und dem Löwen hatte ich begriffen, aber vielen Dank für die Wiederholung«, erwiderte er sarkastisch. »Und über die Presse weiß ich auch ohne dich Bescheid. Sag mir lieber, wo die Werfüchse hinschauen?«
Ich lächelte ertappt.
»Wir Werfüchse schauen mit einem Auge auf den Stock, mit dem anderen auf den Werfer. Denn wir sind zarte Geschöpfe, und außer dass wir an unserer Selbstvervollkommnung arbeiten, hängen wir auch an unserem bisschen Leben. Darum
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