Das Herz der Dunkelheit: Psychothriller (German Edition)
1
12. April
Wenn Jason Leonard, Grace Lucca Beckets erster Patient an diesem Tag, nicht zu früh gekommen wäre und sie selbst sich nicht ein bisschen verspätet hätte, nachdem sie Joshua, ihren zweieinhalbjährigen Sohn, in den Kindergarten gebracht hatte, dann hätte Jason nicht draußen auf der Terrasse auf sie warten müssen. Und dann wäre es vielleicht Grace gewesen, die es als Erste entdeckt hätte.
Es .
Danach hätte sie bestimmt Sam angerufen – ihren Ehemann, Detective beim Department für Gewaltverbrechen des Miami Beach Police Departments, kurz MBPD, der vermutlich sofort nach Hause gekommen wäre. Und Sam hätte vielleicht einen kurzen Blick darauf geworfen und dann das Bombenentschärfungskommando verständigt, das vielleicht entschieden hätte, eine kontrollierte Explosion durchzuführen (besser auf Nummer sicher gehen). Und dann hätten sie vielleicht erst viel später, falls überhaupt, herausgefunden, was genau in dem Paket gewesen war.
Aber so war Jason allein gewesen, als er es bemerkte.
Und da er vierzehn Jahre alt, gelangweilt und ein bisschen gereizt war – auch wenn er Doc Lucca für eine Seelenklempnerin ziemlich cool fand, waren ihre Sitzungen in letzter Zeit härter geworden – und da es eines seiner Dinge war, dass er sich nichts Hübsches ansehen konnte, ohne es berühren zu wollen, ohne es sich zu eigen machen zu wollen, hatte er genau das getan.
Weil es klasse aussah.
Und irgendwie merkwürdig.
Was es unwiderstehlich machte.
Zuerst hatte er nur das Dingi gesehen – ein Mini-Dingi, fast ein aufblasbares Kinderspielzeug –, das an dem Anlegepfahl hinter der Terrasse der Ärztin vertäut war. Dort schaukelte es im Wasser auf und ab, leuchtend gelbes Plastik, das im Sonnenschein glänzte.
Irgendetwas lag darin.
Ein Plastikbehälter, wie eine Tupperware-Dose.
Darin lag noch irgendetwas.
Jason hatte sich kurz umgesehen, bevor er sich hinhockte und mit einer Hand in das Dingi griff – nur für den Fall, dass ihn jemand beobachtete, nur für den Fall, dass es ein Trick war, vielleicht jemand, der versuchte, ihn auf frischer Tat zu ertappen –, obwohl niemand außer seiner Mom und der Ärztin wusste, dass er hier war, daher konnte es eigentlich nichts mit ihm zu tun haben.
Was wohl hieß, dass es vermutlich irgendetwas mit dem kleinen Jungen der Ärztin zu tun hatte. Obwohl Joshua erst zwei war und Jason bezweifelte, dass er überhaupt in die Nähe des Wassers durfte ...
Und er wollte sich ja auch nur genauer ansehen, was in diesem Behälter war.
Es war, wie sich herausstellte, noch ein Behälter, eine dieser verzierten Geschenkschachteln: rot und mit einer weißen Schleife, die auf dem Deckel befestigt war, sodass man nichts aufschnüren musste, sondern nur den Deckel leicht anheben ...
Ein zweiter Plastikbehälter.
Darin lag noch irgendetwas.
Irgendetwas Seltsames.
Jason hielt inne, verharrte ganz still, horchte auf Geräusche von Dr. Lucca. Er wusste, was er tun sollte: die Finger davon lassen, den Deckel wieder auf die Geschenkschachtel setzen, sie zurück in den größeren Plastikbehälter stecken, das ganze gruselige Ding zurück in das kleine Boot legen.
Denn ehrlich gesagt, war es ihm inzwischen wirklich gruselig.
Aber Tatsache war: Jason war unfähig, in Augenblicken wie diesem das Richtige zu tun. Er schien sich nie beherrschen zu können, sich Dinge anzuschauen, die er nicht sehen durfte – zum Beispiel den Aktenschrank neben dem Schreibtisch seines Dads, wenn er ihn in seinem Büro besuchte. Oder die Schublade, in der seine Mom ihre Höschen und Büstenhalter stapelte, wo sie aber auch diesen grässlichen rosa Vibrator aufbewahrte. Er wusste, dass sie lieber sterben würde, als ihn dieses Ding sehen zu lassen – und das war ein Anblick, bei dem sich ihm wirklich der Magen umdrehte ...
Dasselbe galt für all die Sachen, die er gestohlen hatte.
Er konnte nicht anders.
Wollte eigentlich gar nicht anders können, wie er der Ärztin gegenüber einmal zugegeben hatte, vermutlich weil das Zeug, das er nicht sehen oder besitzen durfte, im Allgemeinen viel interessanter war als das Zeug, zu dem ihm der Zugang gewährt wurde.
Daher tat er jetzt, was er schon die ganze Zeit gewusst hatte, dass er tun würde.
Er öffnete den Behälter.
2
Grace hatte Woody, den Dackel-Schnauzer-Mischling der Familie, eben ins Arbeitszimmer gesperrt, da Jason Leonard auf Hunde nicht gut zu sprechen war, als sie den Schrei des Jungen hörte.
Vor Angst, dachte sie
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