0784 - Avalons Geistergräber
Suko beschrieb die Gegend und führte den Abbé weiter, bis sie nach wenigen Schritten ein Birkenwäldchen erreichten. Auch Suko fühlte sich nicht glücklich auf der Nebelinsel. Nur hatte er dem Blinden gegenüber einen Vorteil, sein Augenlicht war normal, er konnte sehen, sich an den Schönheiten erfreuen, was er in der ersten Zeit auch getan hatte. Wie lange eigentlich befanden sie sich schon auf der Wanderschaft? Wann würden sie endlich erfahren, wohin sie das Schicksal verschlagen hatte?
Dabei gab es in diesem Land einen Bezugspunkt, sogar einen Menschen, den Suko gut kannte. Dieser Mensch – Nadine Berger – lebte bereits ihr drittes Leben. Im ersten war sie normal und von Beruf Filmschauspielerin gewesen, im zweiten hatte sich ihre Seele in den Körper einer Wölfin verirrt, und das dritte Leben hatte sie nach Avalon verschlagen, abermals als Mensch, und gleichzeitig als eine Person, die von diesem Land nicht mehr lassen wollte.
Das hatte sie Sukos bestem Freund John Sinclair mitgeteilt, und nun befanden sich die beiden Verschollenen in Avalon und auf der Suche nach Nadine Berger, in der Hoffnung, dass sie ihnen weiterhelfen konnte.
Keiner von ihnen wusste, wo die Nebelinsel genau lag, und keiner von ihnen konnte auch nur ihre Ausmaße erahnen. Es war ein Land in einer anderen Welt, vielleicht eine manifestierte Legende, wer konnte das schon genau erklären? Man trug Avalon in seinem Geist, in der Seele, im Kopf, und sicherlich gab es Menschen, die Wege fanden, um dieses geheimnisvolle Reich zu besuchen.
Sie hatten es ja auch geschafft, und beide durch den rätselhaften Knochen-Sessel, der John Sinclair gehörte. Suko hatte natürlich gehofft, dass John denselben Weg nahm, um sie in Avalon zu suchen und ihnen einen Weg zu zeigen, der wieder zurückführte.
Bisher war es eine vergebliche Hoffnung gewesen, doch Suko wollte seinem besten Freund keinen Vorwurf machen. Möglicherweise befand er sich längst in Avalon. Nur war die Insel ebenso groß, dass sich ihre Wege nicht immer kreuzten.
Er konnte überall sein, er würde sie vielleicht an Orten suchen, die an anderen Gestaden lagen, aber nicht da, wo sie beide sich aufhielten. Sie waren gewandert, und Suko hatte sich dabei nach dem Stand der Sonne gerichtet. Immer in Richtung Osten, weil er dabei das Gefühl hatte, sich seinem Zuhause zu nähern.
Es gab nicht viel über Avalon zu berichten, weil dieses Land einfach im Nebel der Zeiten untergetaucht war und die Regentschaft König Artus’, der hier auf der Insel seine letzte Ruhestätte gefunden haben sollte, zu weit zurücklag – doch in einem Punkt war man sich einig. Avalon musste westlich des Landes Britannien liegen, umspült von den mächtigen Wogen der Irischen See.
Deshalb hatte sich Suko für eine Wanderung nach Osten entschieden. Er wollte diese Seite der Insel erreichen, auch das Meer, um damit näher an England zu sein.
Es war nur eine Hoffnung, mehr konnte es auch nicht sein, denn wenn Avalon nicht als festes Objekt existierte, war ihre Wanderung einfach vergebens. Dann durchschritten sie eine Fiktion, aber darüber dachte Suko nicht nach. Er hatte auch nicht mit dem Abbé über das Thema gesprochen, beide mieden es bewusst.
Der Templer saß neben ihm. Er schaute nach vorn. Seine Augen waren hinter den dunklen Gläsern der Brille verschwunden. Dabei sah er aus wie ein Mensch, der sehen konnte, doch das schaffte er nicht. Dennoch waren seine anderen Sinne geschärft. Er nahm oft Dinge wahr, die den nicht blinden Menschen verborgen blieben.
Das schien auch jetzt wieder so zu sein, denn Suko bemerkte, wie sich die Stirn seines Freundes in Falten legte, ein Beweis dafür, dass er über ein Problem oder Phänomen nachdachte, ohne allerdings zu einem Ergebnis zu gelangen, denn er blieb stumm.
Suko fragte ihn trotzdem. »Was ist mit dir? Du kommst mir so nachdenklich vor.«
»Ich denke auch nach.«
»Darf ich den Grund erfahren?«
»Ja, ich hätte es dir sowieso gesagt oder hätte dich gefragt.« Er streckte die Beine aus und setzte sich bequemer hin, indem er sich mit den Hacken abstützte. »Es sind nur Strömungen, die ich spüre, Suko, aber ich weiß, dass sich etwas ändern wird, das unmittelbar mit uns beiden zu tun hat.«
Suko nickte. Der Abbé hatte sehr ruhig gesprochen. Überhaupt war die große Ruhe über beide gekommen. Es gab in diesem Land keine Hetze mehr, auch keine sichtbaren Gefahren, hier war alles anders. Manchmal etwas schleier- und nebelhaft, so verschwommen, als
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