Das Herz der Wueste
führen, und achtete darauf, stets nur die rechte Hand zu benutzen. Inzwischen handhabte sie die Fladenstücke genauso geschickt wie Messer und Gabel zu Hause in Australien. Trotzdem war sie sich die ganze Zeit des hochgewachsenen schlanken Mannes bewusst, der neben ihr saß. Sie hatte noch immer keine Ahnung, was sie von diesem faszinierenden Fremden halten sollte.
„Wir werden noch einmal nach unserem Patienten sehen, ehe wir uns draußen ein wenig unterhalten“, meinte er, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. „Nach dem, was Sie heute erlebt haben, machen Sie sich bestimmt Gedanken über die notwendige medizinische Versorgung des Lagers.“
„Während ich esse, denke ich grundsätzlich nicht über meine Arbeit nach.“ Jenny wischte die Schüssel mit dem letzten Stückchen Fladenbrot aus. „Vor allem, da wir noch keinen Nachtisch gehabt haben.“
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, tauchte wieder eine der Frauen auf, in den Händen eine Metallschüssel Schafsmilchjoghurt. Mit einer großen Kelle häufte sie etwas davon in Jennys Schale, reichte ihr einen Löffel und anschließend eine Blechbüchse mit goldgelbem Sirup.
„Der beste Nachtisch der Welt“, erklärte Jenny, während sie die golden schimmernde Flüssigkeit großzügig auf ihren Joghurt träufelte. „Süß und sehr lecker. Die Frauen halten mich für verrückt, weil ich nicht genug davon bekommen kann.“
Er sah zu, wie sie es sich schmecken ließ, schüttelte aber den Kopf, als die Frau ihm beides anbot. Jenny hatte erst ein paar Löffel gegessen, als Rosana im Zelt auftauchte und sofort auf sie zukrabbelte. Bei ihnen angekommen, kuschelte sie sich an Jenny, die die Kleine an sich drückte und ihr immer wieder ein Löffelchen von ihrem Nachtisch in den Mund schob. Dabei redete sie leise mit ihr, obwohl sie natürlich wusste, dass Rosana nicht ein einziges Wort verstand.
„Hat sie keine Familie?“, fragte Kamid, als sie das Zelt verließen und Jenny das Mädchen wieder auf der Hüfte trug.
„Wir konnten bisher niemanden finden. Vielleicht gehört sie zu einem der kriegerischen Clans auf der anderen Grenzseite.“ Einem plötzlichen Gedanken folgend, blieb sie neben einem dürren Wacholder stehen. Vielleicht galt es hier als aufdringlich und unhöflich, eine solche Frage zu stellen, aber Jenny war neugierig. „Da Sie hier gelebt haben, können Sie mir sagen, worum es in diesem Krieg eigentlich geht?“
3. KAPITEL
„Eine einfache Frage“, entgegnete Kamid, „aber genauso gut könnten Sie mich bitten, die Geschichte der Beduinen in zwei Sätze zu fassen. Sie wissen, das sind die Nomadenstämme, die durch die Wüsten der arabischen Halbinsel und Nordafrikas streifen, wobei man nicht vergessen darf, dass es in Afrika zusätzlich die Tuareg gibt.“
Jenny nickte.
„Ursprünglich waren es wohl drei Hauptstämme, doch im Laufe der Zeit spalteten sie sich in mehr und mehr Clans auf. Jeder wurde von einem Scheich angeführt, den die Stammesältesten bestimmt hatten. Allerdings wählte man in der Regel unter den Angehörigen einer Familie, sodass die Nachfolge gewissermaßen vererbt wurde.“
„Hat es schon immer solche Auseinandersetzungen wie auf der anderen Seite der Grenze gegeben, oder sind die Kämpfe neu?“
Die arglose Frage brachte ihn zum Lächeln.
„Gekämpft wurde seit jeher“, erklärte er, „meistens gegen Eindringlinge, vor allem Ungläubige, aber auch gegeneinander. Dann schickte ein Stamm Hunderte von Männern auf Kamelen oder zu Fuß los, um einen anderen Stamm zu überfallen. Allerdings unterlag die Kriegsführung strengen Regeln. Nächtliche Überfälle waren tabu, weil die Beduinen glauben, dass die Seele nachts den Körper verlässt. Einen Mann dann anzugreifen, hieße einen Toten anzugreifen. Also fand die Attacke im Morgengrauen statt, auch um den Männern die Chance zu geben, ihre Kamele, die sie am Tag zuvor verloren hatten, wieder einzufangen.“
„Wie sportlich. Das hört sich eher nach einem Wettkampf an und weniger nach ernsten Kriegshandlungen.“
Lächelte sie, damit er weitersprach? Oder weil sie in seiner Nähe entspannt und glücklich war?
Kamid seufzte stumm. Seine Gedanken gingen seltsame Wege. Das Problem war, dass er zu lange nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen war. Nach seiner Rückkehr nach Zaheer hatte er sich nicht mit den Komplikationen einer Liebesbeziehung belasten wollen, um sich voll und ganz auf seine Arbeit im Krankenhaus zu konzentrieren. Dann war sein Vater krank
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