Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
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1
Die Oper, Stockholm
Dezember 1880
Beatrice Löwenström stieg aus der Droschke. Es lag Frost in der Luft, und die Kälte des Pflasters drang durch die Sohlen ihrer neuen Abendschuhe. Während der Kutscher ihrer Cousine und ihrem Onkel beim Aussteigen behilflich war, sah sie sich um. Rundherum rollten Kutschen, Droschken und der eine oder andere vierrädrige Landauer mit hochgeklapptem Verdeck heran. Die Hufe und Hufeisen erzeugten ohrenbetäubendes Geklapper auf dem Kopfsteinpflaster. Eine Gruppe Kinder stand am Sockel des Gustav-Adolf-Denkmals und gaffte staunend auf die eintreffenden Besucher. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie die dünne Kleidung der Kinder sah. Unter ihrem eigenen Mantel, durch all die Schichten aus Baumwolle, Leinen und Seide, durch meterweise Taft, Volants, Spitzen und Stickerei, konnte Beatrice dennoch den eisigen Wind auf der Haut spüren. Diese Kinder mussten völlig durchgefroren sein.
Ihre Begleitung ging bereits auf den Eingang zu, während Beatrice immer noch wie angewurzelt dastand. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte an der erleuchteten Fassade empor. Manche fanden, die Oper – die demnächst ihr hundertjähriges Jubiläum feiern sollte – sei unmodern und heruntergekommen, doch ihr hatten die weißen Säulen und die gewölbten Portale immer gefallen. Als sie gerade den anderen hinterherlaufen wollte, donnerte noch ein Landauer heran und schnitt ihr den Weg ab. Mit dem lackierten Aufbau, den roten Speichen und den vergoldeten Ornamenten war er luxuriöser als die meisten anderen Equipagen auf dem Opernvorplatz, und sie fragte sich unwillkürlich, wem das Gefährt wohl gehören mochte. Der Kutscher zog die Zügel an, und die mit Federbüschen geschmückten Pferde schnaubten.
«Bea! Komm, dir wird doch kalt!», rief Sofia, und Beatrice nickte widerstrebend. Es nieselte leicht, und sie tastete kurz mit der Hand nach ihrer Kapuze, um sich zu vergewissern, dass sie gegen den Regen geschützt war. Durch die Feuchtigkeit bekam ihr Haar widerspenstige Locken, sie konnte nur hoffen, dass ihre hübsche Hochsteckfrisur nicht zu sehr litt. Sie eilte der kleinen Gesellschaft nach, die schon auf dem Weg nach drinnen war. Wie gerne hätte sie einen Blick auf den Insassen der protzigen Equipage geworfen.
In ebendiesem Landauer erhob sich Charlotta Wallin gerade von ihrem Sitz. Die Diamanten, die sie um den Hals trug, blitzten.
«Freust du dich nicht auch, dass du ihn gekauft hast?», fragte sie, während sie sich das Kleid glattstrich.
«Dass ich ihn gekauft habe?», echote Seth Hammerstaal ironisch. Der Wagen – der diese Woche von Stockholms teuerstem Polsterer geliefert worden war – war mit einer absurden Menge goldener Quasten verziert und mit dickem Samt ausgeschlagen. Amüsiert blickte Hammerstaal seine Geliebte an. «Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, wolltest du ihn unbedingt haben», sagte er und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. «Ich bin zufrieden, wenn du glücklich bist.»
«Keiner meiner Freunde hat so einen Wagen», sagte Charlotta und zog sich den Nerz um die Schultern. «Nur ich.»
«Wir könnten auch einfach nach Hause fahren», schlug er vor, als ihm wieder in den Sinn kam, wie sie den Nachmittag verbracht hatten. «Dann kannst du mir zeigen, wie glücklich du bist.»
Doch Charlotta schüttelte nur den Kopf. «Mach jetzt keine Schwierigkeiten, Liebling, wir haben doch immer solchen Spaß, wenn wir zusammen ausgehen.»
«Nicht so viel Spaß, wie wir bei dir zu Hause haben.» Er öffnete den Wagenschlag, stieg aus und hielt ihr die Hand hin.
«Versuch es gar nicht erst. Ich weiß, dass du froh bist, doch mitgekommen zu sein», lachte sie und legte ihre Finger in seine.
«Überglücklich», versicherte er, und Charlotta lachte erneut. Vom Eingang strahlte ihnen das Licht entgegen, und je näher sie kamen, umso lauter wurde das Stimmengewirr. Seth unterdrückte ein Stöhnen, als ihm einfiel, dass sie Aida sehen würden. Aida war lang. Unerträglich lang.
Im Foyer wimmelte es nur so von Besuchern. Herausgeputzte Frauen mit ihren Familien, ältere Herren mit graumeliertem Backenbart und Gruppen junger Männer mischten sich mit jungen Damen der besseren Gesellschaft und Männern in Fräcken oder dunklen Anzügen.
Beatrice öffnete ihren Fächer, während sie auf die anderen wartete. Der Duft von Parfum und Puder mischte sich mit dem Geruch von Zigarrenrauch. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, ihr
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