Das Herz des Loewen
wusste, dass er die Bemerkung nicht überhören durfte. Sonst würde man ihn für einen Schwächling halten. „Habt Ihr mir etwas mitzuteilen, Andrew?“
Das wettergegerbte Gesicht des Ritters nahm fast die gleiche Farbe an wie die roten Strähnen, die sein graues Haar immer noch durchzogen. Seine braunen Augen drückten Verachtung aus. „Ich sagte nur, Ihr seht völlig erschöpft aus, nachdem Ihr während unserer Abwesenheit unentwegt über Euren Büchern gehockt habt.“
Diese Attacke vonseiten eines Mannes, den er stets bewundert und der bis zu Lions Tod sein Freund gewesen war, ver-letzte Ross. „Nur gut, dass ich mich um die Geschäfte kümmere!“, stieß er hervor. „Denn sonst könnten wir das Rüstzeug, das Ihr für Eure ,Jagdausflüge braucht, bald nicht mehr bezahlen.“ Er bedachte Andrew mit einem vernichtenden Blick. Dann musterte er die anderen Männer und entdeckte mehrere blutige Verbände. Einige Pferde hatten ebenfalls Wunden davongetragen. „Vermutlich finde ich den Laird in der Halle“, fügte er hinzu und ging davon.
Als er den Eingang erreichte, hallte die zornige Stimme seines Vaters vom hohen Gewölbe wider. „Wir waren tatsächlich auf der Jagd! “ Auch hier erfüllte eine spürbare Spannung die schwüle Sommerluft, in der sich die seidenen Banner an den Deckenbalken kaum bewegten. An den langen Tischen saßen neugierige Carmichaels. Sogar die Figuren auf den Wandteppichen schienen den Laird anzustarren. Dienerinnen eilten umher, die Brot, Speck, Käse und Ale zur Stärkung anboten.
Lionel stand vor dem großen Kamin, in dem um diese Jahreszeit kein Feuer brannte. „Die Sutherlands müssen bestraft werden! “, brüllte er. Zu seiner Rechten stand Elspeth, und als sie Ross entdeckte, zupfte sie am Ärmel des Vaters. Aber dessen Aufmerksamkeit galt der kleinen, zierlichen Frau, die seinen Blick furchtlos erwiderte.
„Es wäre ein sinnloser Sieg, wenn der König uns mit Acht und Bann belegte“, erinnerte ihn Carina Carmichael. Tapfer stand sie vor ihm, gewandet in blaue Seide, die zu ihren Augen passte. Nie hatte Ross seine Mutter so sehr bewundert wie in diesem Moment. Sie war klug, loyal und charakterstark. Keine Frau konnte sich mit ihr messen, schon gar nicht Rhiannon, die walisische Hexe, deren Verrat so viel Leid heraufbeschworen hatte.
„Ich habe das Recht, den Tod meines Sohnes zu rächen!“, schrie der Laird und hob eine Hand, aber niemand fürchtete, er könnte seine Gemahlin schlagen. Trotz seines zügellosen Temperaments liebte er sie zärtlich und hatte seinen Söhnen stets eingeschärft, man müsse die Frauen ehren und schützen, dürfe sie niemals missachten und prügeln, wie es so manche Männer taten.
Wegen dieser Lektion war ich eine leichte Beute für die tückische Rhiannon, dachte Ross, während er zwischen den Ti-schen zu seinen Eltern eilte. Nie wieder würde er einer Frau trauen, die nicht seinem Clan angehörte.
„Lion war auch mein Sohn“, betonte Carina.
Schwer sanken Lionels Schultern nach vorn. Die Zornesröte konnte das fahle Grau der Müdigkeit und Verzweiflung, das seine Wangen überzog, nicht verdecken. Wie gern hätte Ross ihn umarmt ... Aber der Vater hätte ihn zurückgewiesen, wünschte weder das Mitleid noch die Zuneigung seines Zweitältesten Sohnes.
„Nun, hast du diesmal jemanden getötet?“, fragte Ross kühl.
„Nein. Die Sutherlands, diese Schurken, schickten Piraten los, die uns von hinten angriffen. Aber wir konnten rechtzeitig fliehen und müssen nicht mehr beklagen als einen gebrochenen Mast und ein paar blutige Kratzer. “
„Ja, diesmal..."
Die Kinnmuskeln des Lairds verkrampften sich. „Wenigstens wollen die Ritter und ich Lions Tod rächen. Zumindest wir haben keine Angst vor den Sutherlands.“
„Du fürchtest nur die Wahrheit. Deshalb verbietest du mir, Ermittlungen in Curthill durchführen zu lassen. Denn es könnte sich herausstellen, dass Lion tatsächlich einen Unfall erlitten hat.“ Ein Raunen ging durch die Halle, gespannt beugten sich die Zuschauer vor.
„Lionel, Ross - oben in meinem Gemach könnten wir ungestört reden“, schlug Mylady Carina vor.
Wortlos stapfte Lionel zur Treppe. Wie eine Klette hing Elspeth an seiner Hand.
„Warum musst du ihn so bedrängen?“, fragte ihn die Mutter, während sie mit Ross die Stufen hinaufstieg.
„Weil ich nach Curthill fahren und herausfinden möchte, was wirklich mit Lion geschehen ist. Nur dann werden wir wieder in Frieden leben können.“
„Du
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