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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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wieder.
    Singer wusste, nun war alles zu Ende. Charles Parker fürchtete, eines Tages für seinen Vetter aufkommen zu müssen. Wenn er auch kaum etwas von der amerikanischen Sprache verstand – vom amerikanischen Dollar verstand er umso mehr: Er hatte sein Geld und seinen Einfluss genutzt, um seinen Vetter schleunigst in der Anstalt unterzubringen.
    Und Singer konnte nichts dagegen unternehmen.
    Die nächste Woche verging in fieberhafter Tätigkeit. Singer redete und redete. Aber obwohl er seine Hände nie ruhen ließ, konnte er nicht alles erzählen, was er sagen wollte – alle Gedanken, die ihm je durch Kopf und Herz gegangen waren –, die Zeit reichte nicht. Seine grauen Augen glitzerten, und sein lebhaftes, kluges Gesicht drückte höchste Anspannung aus. Antonapoulos schaute ihn schläfrig an, und Singer wusste nicht, ob er ihn wirklich verstand.
    Dann kam der Tag, an dem Antonapoulos fortmusste. Singer holte seinen Koffer hervor und packte sorgsam die besten Stücke ihrer gemeinsamen Habe ein. Antonapoulos machte sich seinen Reiseproviant zurecht. Gegen Abend gingen sie zum letzten Mal Arm in Arm die Straße hinunter. Es war ein feuchtkalter Tag spät im November, und ihr Atem hing in kleinen Wölkchen vor ihnen in der Luft.
    Charles Parker sollte seinen Vetter begleiten, hielt aber an der Haltestelle Abstand zu ihnen. Antonapoulos drängelte sich in den Bus und nahm umständlich auf einem der vorderen Sitze Platz. Singer beobachtete ihn durchs Fenster, und seine Hände begannen zum letzten Mal verzweifelt mit dem Freund zu reden. Aber Antonapoulos war so sehr mit dem Inhalt seines Proviantpakets beschäftigt, dass er zunächst gar nicht aufsah. Erst kurz bevor der Bus anfuhr, wandte er sich Singer zu, und sein Lächeln war sehr höflich und sehr fern – als lägen schon viele Meilen zwischen ihnen.
    Die folgenden Wochen erschienen Singer ganz unwirklich. Tagsüber arbeitete er an seiner Werkbank im hinteren Teil des Juwelierladens, und abends ging er allein in die Wohnung. Er wollte nur noch schlafen. Sobald er von der Arbeit zurück war, legte er sich aufs Bett und versuchte eine Weile zu dösen. Im Halbschlaf suchten ihn Träume heim, und in einem jeden war Antonapoulos wieder da. Singers Hände zuckten nervös, denn im Traum redete er mit seinem Freund, und Antonapoulos schaute ihn an.
    Singer versuchte an die Zeit zu denken, als er seinen Freund noch nicht gekannt hatte, sich an Ereignisse aus seiner Jugend zu erinnern. Aber nichts, worauf er sich zu besinnen suchte, schien wirklich zu sein.
    Da gab es eine bestimmte Sache, die ihm jedoch völlig bedeutungslos erschien. Singer erinnerte sich, dass er zwar von Geburt an taub, aber nicht immer richtig taubstumm gewesen war. Früh verwaist, war er in einer Taubstummenanstalt untergebracht worden. Er hatte mit den Händen sprechen und lesen gelernt. Mit nicht einmal neun Jahren konnte er nach der amerikanischen Methode mit einer Hand, aber auch nach europäischer Methode mit beiden Händen reden. Er hatte gelernt, den Lippenbewegungen anderer zu folgen und ihre Worte zu verstehen. Und schließlich hatte man ihm das Sprechen beigebracht.
    In der Schule galt er als sehr intelligent. Er lernte schneller als seine Mitschüler. Aber er konnte sich nicht daran gewöhnen, mit den Lippen zu sprechen. Es war für ihn etwas Unnatürliches, und die Zunge lag ihm schwer wie ein Wal im Mund. Aus den verwirrten Mienen der Leute, mit denen er redete, schloss er, dass seine Stimme irgendwie tierisch klingen, dass seine Sprache irgendwie abschreckend wirken müsse. Mit dem Mund zu sprechen war eine Qual für ihn, während seine Hände stets willig die Worte formten, die er sagen wollte. Mit zweiundzwanzig war er aus Chicago in den Süden gekommen und schon bald Antonapoulos begegnet. Seitdem hatte er nie wieder mit dem Mund gesprochen, denn bei seinem Freund war das nicht notwendig.
    Nichts schien wirklich zu sein – außer den zehn Jahren mit Antonapoulos. Im Halbschlaf sah er den Freund leibhaftig vor sich, und beim Erwachen fühlte er sich schrecklich einsam. Er packte hin und wieder ein Paket für Antonapoulos, erhielt aber nie eine Antwort. So gingen die Monate dahin, träumend und leer.
    Im Frühling ging mit Singer eine Veränderung vor. Er konnte nicht schlafen, sein Körper fand keine Ruhe. Um müde zu werden, wanderte er abends in seinem Zimmer auf und ab, aber seine Energie wollte nicht nachlassen. Er kam – wenn überhaupt – nur gegen Morgen für wenige

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