Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
in einer Kleinstadt schweben satirisch primitive Religiosität, jugendliche Hoffnung und die Lautlosigkeit Taubstummer – und alles zusammen gibt dem starken Kolorit des Lebens, das sie beschreibt, den Schimmer überirdischer Zartheit.
Es ist unmöglich, dieses Buch zu lesen und nicht nach der Person zu fragen, die es geschrieben hat, nach den literarischen Vorläufern dieses Stils und den Ursprüngen eines so verwirrenden Blicks für das Leben. Der Klappentext des Buches erzählt uns mit großer Zurückhaltung, dass die Autorin zweiundzwanzig Jahre alt ist. Da der Roman vom Leben in den Südstaaten handelt, nehmen wir an, dass sie im Süden geboren und aufgewachsen ist. Kürzlich berichtete eine Zeitungsnotiz, dass sie verheiratet sei und jetzt in New York lebe. Und mehr weiß man nicht.
Ich weiß nicht, was das Buch bedeuten soll. Am nächsten komme ich der Erklärung seines Themas, wenn ich auf die katholische Beichte und die Privatsprechstunde des Psychoanalytikers verweise. Die Charaktere, Neger und Weiße, sind ›Neurotiker‹ und sind von einer Warte aus gesehen, die ihnen eine mythenähnliche Qualität verleiht. Der Kern des Buches sind die verschiedenartigen Beziehungen dieser Charaktere zu Singer, dem einsamen Taubstummen. Da sind Mick Kelly, das sensible heranwachsende weiße Mädchen; der alte Dr. Copeland, ein beleidigter und frustrierter Neger; Jake Blount, ein nervöser und unberechenbarer Whiskysäufer; und Biff Brannon, dessen Geist eine einzige genierte Verwirrung ist. Alle diese Typen und viele andere haben das Gefühl, dass allein der Taubstumme sie verstehe. Sie liegen ihm mit ihren Nöten und Hoffnungen in den tauben Ohren und verraten dadurch ihre tiefe Einsamkeit und ihre Lebensunfähigkeit.
Als der Freund des Taubstummen im Irrenhaus stirbt, begeht er Selbstmord, eine Tat, die keinen Priester mehr zulässt. Die Lebensgeschichten von Carson McCullers’ Charakteren werden folgendermaßen gelöst: Mick Kelly ist zu einem Leben der Lohnsklaverei in einem Einheitspreisladen verurteilt, Dr. Copeland wird von einem weißen Mob zusammengeschlagen, als er gegen die seiner Rasse zugefügten Ungerechtigkeiten protestiert, Jake Blount torkelt allein davon, mit dem Gedanken, einen Ort im Süden zu suchen, wo er der Realität durch den Marxismus habhaft werden kann, und Biff Brannon bereitet sich darauf vor, ein inhaltsloses Leben zu führen.
Die naturalistischen Geschehnisse, die im Buch vorkommen, scheinen keine Wichtigkeit zu haben. Man hat das Gefühl, als hätte jede andere Folge typischer Handlungsweisen dem Zweck der Autorin geradeso gut gedient, denn der Wert, so zu schreiben, liegt nicht so sehr in dem, was gesagt wird, als in dem Gesichtswinkel, von dem aus man das Leben betrachtet. Zeitweilig unterdrückt Carson McCullers die natürliche Dramatik absichtlich, um dann bei den unklareren, mysteriöseren und undefinierbareren Gefühlen zu verweilen und sie noch besonders hervorzuheben.
Der eindrücklichste Aspekt für mich in Das Herz ist ein einsamer Jäger ist das erstaunliche Einfühlungsvermögen in die menschliche Natur, das eine weiße Schriftstellerin, die zum ersten Mal einen in den Südstaaten spielenden Roman schreibt, befähigt, farbige Charaktere mit einer ebenso großen Natürlichkeit und Gerechtigkeit zu schildern wie die ihrer eigenen Rasse. Das lässt sich weder stilistisch noch politisch erklären; es scheint vielmehr einer Lebenseinstellung zu entstammen, die Carson McCullers die Fähigkeit verleiht, sich über den Druck ihrer Umgebung zu erheben und mit einer einzigen Bewegung des Verständnisses und der Güte die weiße und die schwarze Menschheit zu umarmen.
Dieses Buch ist im konventionellen Sinne nicht so sehr ein Roman als eine projizierte Stimmung, ein mit dichterischen Worten vergegenständlichter Geisteszustand, eine im naturalistischen Detail nach außen projizierte Einstellung. Ob man das Buch lesen will, hängt davon ab, wie hoch man den Wert des Erlebnisses einschätzt, die abgestandenen und bekannten Ausdrücke des täglichen Lebens in einer reichen und ungewohnten Bedeutung zu entdecken – bar jeder Kleinlichkeit und Sentimentalität.
Foto: © Ullstein Bild / The Granger Collection
CARSON MCCULLERS, geboren 1917 in Columbus (Georgia), gestorben 1967 in Nyack (New York), dort begraben. McCullers wollte eigentlich Pianistin werden. Mit 500 Dollar fuhr sie 18-jährig alleine nach New York, um an der renommierten Juilliard-Musikschule zu
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