Das Herz
gelehrten Männer anderer Zeitalter zu ihm zu sprechen vermochten, als wären sie anwesend. Und wichtiger noch, er lernte, dass auch die Götter und ihre engsten Gefolgsleute über den Abgrund der Zeit und die noch größere Kluft zwischen Himmel und Erde hinweg sprachen und die Geheimnisse der Schöpfung selbst offenbarten. Er lernte, was ihm Gorhan aus den Schriften des Krieger-Dichters Hereddin rezitierte:
»Wer die Hand nur nach einem Thron ausstreckt, wird niemals nach den Sternen greifen.«
Tulim begriff und fühlte, dass auch sein Onkel über eine Weisheit verfügen musste, die größer war als die anderer Menschen, eine Weisheit, die der der Götter kaum nachstand: Gorhan hatte erkannt, dass er, Tulim, nicht wie die anderen war, dass da in ihm noch mehr war als nur das Blut seines Vaters. Gorhan hatte erkannt, dass Tulim nicht das Kind eines Menschen, sondern ein Kind des Himmels selbst war.
Als Tulim älter wurde und seine knabenhafte Zartheit der sehnigen Geschmeidigkeit des Jungmännerkörpers wich, verlor sein Vater, der Autarch, das Interesse an ihm, was ihn nur in seinem Hass bestärkte. Der Autarch hatte ihn lediglich benutzt, und das nicht einmal seiner Einzigartigkeit wegen, sondern aufgrund jener Eigenschaften, die er mit allen hübschen Knaben teilte. Hätte Tulim Parnad töten können, hätte er es getan, aber der Autarch wurde nicht nur lückenlos von seinen grimmigen Leopardengarden bewacht, er verfügte auch selbst über erstaunliche Körperkräfte und eine trainierte, nie erlahmende Aufmerksamkeit, selbst bei Aktivitäten, die jeden Geringeren abgelenkt oder schläfrig gemacht hätten. Außerdem wurden die xixischen Autarchen seit vielen Generationen durch die Institution des Scotarchen geschützt, jenes Nachfolgers auf Zeit, der kein direkter Blutsverwandter war und in dem Fall, dass der Autarch unter verdächtigen Umständen starb, den Thron bestieg und Gerechtigkeit übte, ehe die Herrschaft an den eigentlichen Thronfolger überging — sofern dieser nicht der Mörder des vorigen Autarchen war. Es war eine seltsame, umständliche alte Sitte, hatte aber die Autarchen über Jahrhunderte wirksamer vor Verschwörungen geschützt, als dies den Herrschern fast aller anderen Länder gelungen war.
Also konnte Tulim nur warten, studieren, planen ... und träumen.
Endlich kam der Tag, da die rechteckigen Gongs im Maulbeerfeigenturm und im Nushash-Tempel den Tod des Herrschers verkündeten. Parnad, kaum mehr als dreimal zwanzig Jahre alt, war im Frauenpalast gestorben, im Bett einer seiner Ehefrauen. Obwohl nichts auf einen unnatürlichen Tod hindeutete, ließ sein Scotarch unverzüglich die betreffende Ehefrau und deren Dienerinnen foltern, um sich zu vergewissern, dass sie nichts von irgendwelchen üblen Machenschaften wussten. Anschließend ließ er sie hinrichten, um den übrigen Palastbewohnern in Erinnerung zu rufen, wie gefährlich es war, in irgendeinem Zusammenhang, und sei er noch so unschuldig, mit dem Tod eines Autarchen zu stehen. Es begann die Trauerzeit, nach deren Ablauf Dordom, der älteste Sohn, der bereits Heerführer und ein für seine Fähigkeiten wie für seine Grausamkeit bekannter Krieger war, den Thron besteigen sollte.
Doch Dordom starb noch in Parnads Todesnacht den Erstickungstod, und im ganzen Obstgartenpalast wurde geflüstert, er sei vergiftet worden. Das schien umso plausibler, als auch noch drei Brüder Parnads (samt diversen Freunden, Dienern und Geliebten, die zufällig vom falschen Teller aßen oder aus dem falschen Becher tranken) einem eigentümlichen Gift erlagen, das man weder roch noch schmeckte und das auch nicht auf der Stelle wirkte, sondern das Opfer erst anschließend von innen zerfraß wie Schwefelsäure.
Einer nach dem anderen verschieden die möglichen Thronfolger: vergiftet wie Dordom, von zuvor für unbestechlich gehaltenen Dienern im Schlaf erdolcht oder von Meuchlern auf dem Liebeslager erdrosselt, während die Wachen vor der Tür angeblich nichts hörten. Einige weniger ehrgeizige Nachkommen Parnads, die merkten, woher der Wind wehte, verschwanden samt ihren Familien aus Xis, um dem Tod zu entgehen (der sie aber dennoch irgendwann fand). Andere spielten das Spiel mit, und ein Jahr lang war das alte Xis wie ein einziges riesiges Shanat-Brett: Jeder Zug eines noch lebenden Mitglieds der königlichen Familie wurde studiert und mit dem entsprechenden Gegenzug beantwortet. Tulim, der in der Thronfolge an dreiundzwanzigster Stelle stand, kam gar
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