Das Herz
...
... Aber sie kamen nicht vom Meer her, wie Silberglanz erwartet hatte, sondern aus der Luft ...
... Sie ward nie mehr gesehen, obwohl ihr Liebster und seine Horde die Berge absuchten, bis der Winterschnee fiel ...
Unter dem endlosen Sturm von Gedanken nicht zu schreien, fiel ihm schon schwer genug. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste, rang darum, den Barrick Eddon im Zentrum des Ganzen nicht zu verlieren. Er hatte gehofft, das Gewirr in seinem Kopf würde sich legen, wenn die Trauerfeier für den verstorbenen König vorbei wäre, aber die Stille, die dann eingetreten war, hatte es nur noch schlimmer gemacht.
Die Zwielichtlerkönigin Saqri ging neben ihm her — oder vielmehr ein wenig vor ihm, ganz in fließendem Weiß, sodass sie kaum substantieller schien als die Meeresgischt. Ynnirs Witwe hatte kein Wort zu ihm gesagt, seit sie ihm mit einer gebieterischen Geste bedeutet hatte, ihr zu folgen. Stumm hatte sie ihn aus den Hallen von Qul-na-Qar ins Freie und dann einen gewundenen Pfad zum rastlosen, dunklen Meer hinab geführt.
Sie waren allein, Barrick und Saqri, oder jedenfalls so allein wie möglich: Drei bewaffnete und gepanzerte, männerähnliche Gestalten standen am unteren Ende des Pfads und beobachteten jeden Schritt ihrer Königin. Es waren Eisettins, wie Barrick ohne sein Zutun wusste, aus der Sippe der
Weißumschlungenen,
die in Blaue Tiefen droben im Norden lebte. Er kannte auch ihre Namen oder zumindest die Gesten, die sie für ihren Namen machten — so grimmig sie auch werden konnten, waren die Eisettins doch stille, zurückgezogene Geschöpfe. Er wusste, ihre stumpf schimmernde Rüstung war von keinem Schmied geschmiedet, sondern Teil ihrer Haut, so fühllos wie Fingernägel oder Haare, und er wusste auch, dass Eisettins, wenn auch keiner von ihnen viel größer war als ein Sterblicher, mit ihren schweren Knochen und Hornpanzern mindestens so viel wogen wie drei kräftige Menschen zusammen. Diese Wesen waren durch ihren Sippeneid der Feuerblume verpflichtet, und jedes von ihnen hatte sich seinen Posten in der Leibgarde der Königin durch den Sieg bei einem jener mörderischen Zeremonialwettkämpfe verdient, die die
Weißumschlungenen
in eisigem Dunkel abzuhalten pflegten.
Das alles wusste Barrick so genau wie seinen eigenen Namen und die Namen derer, die ihn aufgezogen hatten — aber auf eine völlig andere Art und Weise: Dieses ganze neue Wissen, die unzähligen Geschichten, Namen und Zusammenhänge und die subtileren Dinge, die sich gar nicht benennen ließen, sondern einfach nur da waren, das alles tönte in seinem Kopf — laut und doch geräuschlos. Nichts konnte Barrick ansehen, nicht einmal seine eigene Hand, ohne dass tausend komplizierte, fremdartige Qar-Ideen auf sein Denken einprasselten wie ein jäher Hagelsturm — Bruchstücke von Gedichten, gelehrte Gedankenassoziationen und Mengen banalerer Erinnerungsfetzen. Doch dieser Sturm von Wissen war wie ein lindes Frühlingslüftchen, verglichen mit dem Wirbel von Vorstellungen und Erinnerungen, der über ihn hereinbrach, wenn er auf etwas Bedeutsames blickte — die Türme von Qul-na-Qar etwa oder den fernen Gipfel des M'aarenol oder gar Königin Saqri selbst.
... Als sie, ein Kind noch, erstmals lachend im Schnee stand ...
... In der Nacht, da ihre Mutter starb und sie die Feuerblume nahm und ihr Gefühl für das, was sein sollte, ihr das Weinen verbot ...
... Ihr Blick, wissend ...
... Ihre Lippen, warm und verzeihend nach jenem schrecklichen Kampf ...
Die Gedankenkette ging immer weiter, unaufhaltsam, und Barrick Eddon begriff mit Schrecken, wie wenig er tun konnte, außer an den Teilen seiner selbst festzuhalten, die er noch wiedererkannte.
Was war ich für ein Narr, mich darauf einzulassen,
dachte er.
Es ist wie die Geschichte vom gierigen Händler — ich werde alles bekommen, was ich will, aber es wird mich anfüllen, bis ich schwelle wie eine Kröte und am Ende zerplatze wie eine Seifenblase.
Plötzlich blieb Saqri stehen und drehte sich zu ihm um — ein anmutiger Übergang von der Bewegung zur völligen Bewegungslosigkeit. Sie sprach laut, aber er hörte ihre Worte gleichzeitig in seinem Denken, wo die Bedeutung ein ganz klein wenig anders war. »Ich habe den ganzen Tag nachgedacht und weiß immer noch nicht, ob ich dich in die Arme schließen oder vernichten soll, Menschenkind«, erklärte ihm Saqri. »Ich verstehe nicht, was sich meine geliebte Großtante gedacht hat.« Nur ein winziges Verziehen
Weitere Kostenlose Bücher