Das italienische Maedchen
Tür.
»Guten Tag, Rosanna Menici. Bitte setz dich.« Luigi deutete auf einen Stuhl an einem Tisch, auf dem ein Krug mit gekühlter Limonade stand. »Nach der Fahrt hast du bestimmt Durst. Möchtest du etwas trinken?«
»Danke, Signore.«
»Wenn wir zusammenarbeiten wollen, musst du von nun an Luigi zu mir sagen.« Er schenkte ihnen Limonade ein, und Rosanna trank die ihre in großen Schlucken.
»Unangenehmes Wetter heute.« Luigi wischte sich die Stirn mit einem großen karierten Taschentuch ab.
»Hier drin ist es schön kühl«, entgegnete Rosanna. »In unserer Küche, hat Papà gesagt, hatte es gestern fast fünfzig Grad.«
»Tatsächlich? Solche Temperaturen sind nur was für Beduinen und Kamele. Womit verdient sich dein Papà denn seinen Lebensunterhalt?«
»Er hat mit Mamma ein Café in Piedigrotta. Wir wohnen darüber«, erklärte Rosanna.
»Wie du sicher weißt, gehört Piedigrotta zu den ältesten Vierteln Neapels. Ist dein Papà dort geboren?«
»Unsere gesamte Familie.«
»Dann seid ihr echte Neapolitaner. Ich stamme aus Mailand und bin in eurer hübschen Stadt nur Gast.«
»Hier oben gefällt’s mir viel besser als unten bei den ganzen Touristen.«
»Du arbeitest in dem Café?«
»Ja, wenn ich nicht in der Schule bin.« Rosanna verzog das Gesicht. »Da geh ich nicht gern hin.«
»Rosanna Menici, auch wenn es dir dort nicht gefällt, musst du dir Mühe geben, etwas zu lernen. Im Sommer kommen bestimmt viele englische Gäste in euer Café, oder?«
»Ja.« Rosanna nickte.
»Dann hör ihnen zu und versuch, etwas Englisch aufzuschnappen. Das wirst du später brauchen. Bringt man dir in der Schule auch Französisch bei?«
»Ja, da bin ich Klassenbeste«, antwortete sie stolz.
»Einige der größten Opernlibretti sind auf Französisch geschrieben. Wenn du dich jetzt schon mit diesen Sprachen beschäftigst, hast du es später leichter. Und was halten deine Eltern von deiner Stimme?«
»Ich weiß es nicht … Sie haben keine Ahnung, dass ich Gesangsstunden nehme. Roberto Rossini hat Papà gesagt, ich soll zu Ihnen gehen, aber Papà meint, wir hätten kein Geld dafür.«
»Also zahlt dein Bruder für den Unterricht?«
»Ja.« Rosanna zog einige Lirescheine aus der Tasche ihres Kleids und legte sie auf den Tisch. »Hier ist das Geld für die nächsten drei Stunden. Luca will im Voraus zahlen.«
Luigi nahm die Scheine mit einem huldvollen Nicken. »Und nun sag mir, ob du gern singst.«
Rosanna musste daran denken, wie besonders sie sich bei dem Fest von Maria und Massimo gefühlt hatte. »Sogar sehr gern. Wenn ich singe, bin ich in einer anderen Welt.«
»Das ist eine gute Basis. Allerdings bist du sehr jung, zu jung, als dass ich mit Sicherheit beurteilen könnte, ob deine Stimme sich in die richtige Richtung entwickeln wird. Wir dürfen deine Stimmbänder nicht überbelasten und müssen herausfinden, wie sie funktionieren und wie sie sich am besten stärken lassen. Ich unterrichte primär Belcanto mit immer schwieriger werdenden Stimmübungen, die samt und sonders darauf abzielen, einen besonderen Aspekt des Gesangs zu vermitteln. Wenn du sie beherrschst, kennst du alle stimmlichen Probleme, mit denen du es in der Praxis zu tun haben kannst. Die Callas hat auch so gelernt und war nicht viel älter als du, als sie angefangen hat. Bist du zu harter Arbeit bereit?«
»Ja, Luigi.«
»Die großen Arien wirst du erst singen, wenn du sehr viel älter bist. Anfangs beschäftigen wir uns mit der Handlung der bekanntesten Opern und versuchen, die Figuren darin zu verstehen. Die besten Opernsänger haben nicht nur eine wunderbare Stimme, sie sind auch exzellente Schauspieler. Und glaub bitte nicht, dass zwei Stunden monatlich bei mir genügen, um deine Stimme zu formen«, warnte er sie. »Du musst die Übungen, die ich dir gebe, jeden Tag machen, ohne Ausnahme.«
Als Luigi Rosannas Blick sah, schmunzelte er. »Rosanna, manchmal musst du mich daran erinnern, dass du noch ein Kind bist. Entschuldige, dass ich dir einen Schrecken eingejagt habe. Das Schöne an deiner Jugend ist allerdings, dass wir so viel Zeit haben. Machen wir uns ans Werk.« Luigi setzte sich auf den Klavierhocker und winkte sie heran. »Komm, jetzt bringe ich dir bei, welche Noten welchen Tasten entsprechen.«
Eine Stunde später verließ Rosanna die Villa Torini ein wenig enttäuscht, weil sie in der ganzen Stunde keine einzige Note gesungen hatte.
Als sie erschöpft von der Hitze im Bus und der Anspannung des Nachmittags nach
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