Das italienische Maedchen
METROPOLITAN OPERA HOUSE
NEW YORK
Mein liebster Nico,
es ist merkwürdig, eine so komplizierte Geschichte zu Papier zu bringen, obwohl Du sie möglicherweise niemals lesen wirst, und ich weiß auch nicht, ob das Schreiben über die Vergangenheit eher mir oder Dir nützen soll, mein Schatz.
Ich sitze in meiner Garderobe und frage mich, wo ich anfangen soll. Vieles von dem, was ich erzählen werde, ist vor Deiner Geburt geschehen, als ich jünger war als Du jetzt. Vielleicht sollte ich in Neapel beginnen, der Stadt meiner Geburt …
Ich weiß noch, wie Mamma die Wäsche über eine Leine quer über die Straße hängte. In den engen Gassen von Piedigrotta hatte man wegen der bunten Kleidungsstücke über einem das Gefühl, als würde überall gefeiert. Dazu der Lärm, der ständige Lärm; nicht einmal in der Nacht war es still. Die Erwachsenen sangen und lachten, und die kleinen Kinder weinten … Die Italiener sind, wie Du weißt, ein lautes, emotionales Volk, und die Familien von Piedigrotta teilten Freude und Trauer, wenn sie in der Sonne auf der Schwelle ihrer Türen saßen. Besonders im Hochsommer war die Hitze unerträglich. Dann versengte der Boden die Fußsohlen, und die Mücken stürzten sich auf das nackte Fleisch. Ich habe noch immer die Gerüche in der Nase, die durch mein offenes Schlafzimmerfenster hereinwehten – der Übelkeit erregende Gestank aus der Kanalisation, jedoch auch der köstliche Duft frisch gebackener Pizza aus Papàs Küche.
In meiner frühen Kindheit waren wir arm, aber bei meiner Erstkommunion hatten Papà und Mamma durch harte Arbeit bereits ziemlich großen Erfolg mit ihrem kleinen Café ›Da Marco‹. Sie servierten würzige Pizza nach Papàs Geheimrezept, das in Piedigrotta im Lauf der Jahre einen gewissen Ruhm erlangte. In den Sommermonaten wimmelte es in unserem Café von Touristen, und im Innern standen die Holztische so dicht beieinander, dass man kaum zwischen ihnen hindurchkam.
Unsere Familie lebte in einer kleinen Wohnung darüber. Wir hatten unser eigenes Bad, genug zu essen und Schuhe an den Füßen. Papà war stolz darauf, es aus dem Nichts so weit gebracht zu haben. Und ich fühlte mich glücklich, meine Träume reichten kaum weiter als bis zum nächsten Sonnenuntergang.
Dann, eines warmen Augustabends, als ich elf Jahre alt war, geschah etwas, das mein Leben veränderte. Kaum zu glauben, dass ein Mädchen in diesem Alter sich verlieben kann, doch ich erinnere mich noch ganz genau an den Moment, als ich ihn das erste Mal sah …
1
Neapel, Italien, August 1967
Rosanna Antonia Menici stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt sich am Waschbecken fest, um in den Spiegel zu schauen. Sie musste sich ein wenig nach links neigen, weil sich ein Sprung darin befand, und konnte nur ihr rechtes Auge sowie ihre rechte Wange und nichts von ihrem Kinn sehen; dazu war sie sogar noch auf Zehenspitzen zu klein.
»Rosanna! Kommst du wohl endlich aus dem Bad!«
Seufzend ging Rosanna über den schwarzen Linoleumboden zur Tür und entriegelte sie. Sofort wurde die Klinke heruntergedrückt, und Carlotta hastete herein.
»Warum sperrst du zu, du Dummkopf? Hast du was zu verbergen?« Carlotta drehte die Hähne der Badewanne auf und steckte ihre langen dunklen Locken oben am Kopf zusammen.
Rosanna zuckte verlegen mit den Achseln; sie hätte sich gewünscht, von Gott genauso hübsch geschaffen worden zu sein wie ihre ältere Schwester. Mamma hatte ihr erklärt, Gott gebe jedem etwas mit, und Carlotta habe er nun einmal ihre Schönheit geschenkt. Rosanna beobachtete, wie Carlotta den Bademantel auszog, unter dem ihr wohlgeformter Körper mit der makellosen Haut, den vollen Brüsten und den langen schlanken Beinen zum Vorschein kam. Die Gäste des Cafés sangen ein Loblied auf Mammas und Papàs schöne Tochter und prophezeiten, dass sie eines Tages einen reichen Mann heiraten würde.
Das kleine Bad füllte sich mit Dampf, als Carlotta die Hähne zudrehte und in die Wanne stieg.
Rosanna setzte sich auf den Rand. »Kommt Giulio heute Abend?«, fragte sie ihre Schwester.
»Ja.«
»Meinst du, du wirst ihn heiraten?«
Carlotta begann, sich einzuseifen. »Nein, Rosanna, das habe ich nicht vor.«
»Ich dachte, du magst ihn?«
»Ja … Ach, du bist zu jung, um das zu verstehen.«
»Papà kann ihn gut leiden.«
»Das weiß ich. Er kommt aus einer wohlhabenden Familie.« Carlotta hob eine Augenbraue und stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Ich finde ihn langweilig. Papà würde
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