Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
1
Ein Bilderrätsel,
zwei Antworten und keine Lösung
E IN SCHILFHALM BEWEGT SICH IM W IND .W IR BRECHEN IHN AB . E R SCHWIMMT . Er kann einen Frosch tragen.
Zweihunderttausend Schilfhalme bewegen sich im Wind. Eine ganze Wiese wogt wie ein grünes Feld das Ufer entlang.
Wir schneiden sie ab und binden sie wie große Hafergarben zum Erntefest zusammen. Die Bündel schwimmen. Wir gehen an Bord. Ein Russe, ein Neger, ein Mexikaner, ein Ägypter, ein Amerikaner, ein Italiener und ich, ein Norweger, mit einem Affen und einer Menge gackerndem Federvieh. Wir sind in Ägypten und wollen nach Amerika. Sand weht, es ist trocken: die Sahara.
Abdullah versichert mir, dieses Schilf könne schwimmen. Ich sage, es sei weit bis Amerika. Er glaubt, die Leute in Amerika mögen schwarze Haut nicht, aber ich versichere ihm, daß er sich irrt. Er weiß nicht, wo Amerika liegt, aber wenn der Wind in diese Richtung weht, werden wir es schon erreichen. Solange die Taue halten, sind wir auf dem Schilf sicher. Solange die Taue halten, sagt er. Aber werden sie halten?
Ich spürte, wie jemand an meiner Schulter rüttelte, und erwachte. Vor mir stand Abdullah. »Es ist drei Uhr«, sagte er. »Wir fangen wieder mit der Arbeit an.« Auf die heiße Zeltleinwand brannte die Sonne. Ich setzte mich vorsichtig auf und blinzelte durch ein Loch in der Türöffnung. Von draußen schlugen mir die trockene Hitze und der blendende Sonnenschein der Sahara entgegen. Sonne, Sonne, Sonne. Eine sonnenheiße, durchglühte Sandwüste traf auf das tiefste Blau, das der Herrgott geschaffen hat, einen
wolkenlosen Wüstenhimmel in der Nachmittagssonne, ausgerollt über der goldgrauen Sandwelt. Eine Reihe von drei großen und zwei kleinen Pyramiden 'war wie Haifischzähne gegen das Himmelsgewölbe gesetzt. So hatten sie unbeweglich und unveränderlich gestanden, seit Menschen die Natur mit natürlichen Mitteln gestalteten. Und vor den Pyramiden lag unten in der sanft abfallenden Talmulde etwas Zeitloses, gestern erbaut, vor fünftausend Jahren erbaut: ein Boot im Wüstensand, wie eine Arche Noah, die fern von Wellenrauschen und Seegras in der Einöde der Sahara gestrandet ist. Daneben standen zwei Kamele und käuten wieder. Käuten wieder, was sie gefressen hatten: Abgeschnittene Reste von diesem Boot. Es war aus Papyrus. Das goldene Schilf war zu Bündeln zusammengezurrt und nahm die Form eines Schiffes mit Bug und Achtersteven an, das wie eine liegende Mondsichel gegen den blauen Himmel ragte.
Abdullah war schon auf dem Wege dorthin. Und zwei pechschwarze Buduma-Neger in flatternden, weißen Gewändern kletterten an Bord, während Ägypter in bunten Kleidern neue Bündel Papyrusschilf herbeischleppten. Hier gab es Arbeit. »Bot! Bot!« schrie Abdullah. »Mehr Schilf!«
Ich taumelte in den heißen Sand hinaus, mir kam es so vor, als wäre ich aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Die Männer arbeiteten für mich, denn ich hatte die absurde Idee gehabt, eine Bootsbauerkunst zum Leben zu erwecken, die Pharao Cheops und seine Dynastie schon allmählich aufgaben, als sie die mächtigen Pyramiden bauen ließen. Jetzt lagen sie dort wie eine unerschütterliche Gebirgskette und verbargen unseren zeitlosen Bauplatz vor dem Mahlstrom des 20. Jahrhunderts, der in Kairos hektischen Großstadtstraßen rotierte, unten im grünen Niltal auf der anderen Seite. Unsere Welt vor den Zelten bestand aus lauter Sand. Heißem Sand, Pyramiden, wieder Sand und riesigen Stapeln sonnengetrockneten Schilfs, spröden und brennbaren Papyrusschilfs. Jetzt schleppten es die Männer zu den lakritzefarbenen Negern, die auf der Mondsichel saßen und mit Hilfe von Händen, Zähnen und nackten Beinen die Tauverzurrungen anzogen. Sie bauten ein Boot, ein Papyrusboot. Kaday nannten sie es auf Buduma, und sie wußten, was sie bauten. Fleißige Finger und Zähne zogen die Schlingen um das Schilf fest, wie nur Fachleute es konnten. Ein »Papierboot«, sagten die Leute vom Papyrus-Institut im Niltal. Sie weichten das Schilf dort in Wasser ein und klopften es zu sprödem Papier zusammen, um Touristen und Wissenschaftlern zu zeigen, worauf die ältesten Schriftgelehrten der Welt in Hieroglyphen ihre Memoiren gemalt hatten.
Ein Papyrushalm ist ein weicher und saftiger Blumenstengel, den ein Kind umbiegen und beschädigen kann. Im trocknen Zustand bricht sie wie ein Streichholz und brennt wie Papier. Auf dem Hügel vor meinen Beinen lag ein knochentrockenes Papyrusschilf, das gewaltsam zu einer
Weitere Kostenlose Bücher