Das Jagdgewehr
tot ist! Seit gestern ist kein einziger Beileidsbesuch mehr gekommen, das ganze Haus ist mit einem Mal unheimlich verwaist. Seit Mama nicht mehr auf Erden ist, bin ich einsam, – einsam bis auf den Grund meines Herzens. Du bist sicher schrecklich erschöpft! Du hattest ja alles übernommen, was bei einem solchen Trauerfall getan werden muß – von der Versendung der Traueranzeigen bis zur Sorge um das Nachtmahl für die Totenwache. Außerdem hast Du, da Mama ja unter so ungewöhnlichen Umständen starb, statt meiner noch mit der Polizei gesprochen. In allem hast Du äußerste Umsicht bewiesen. Ich weiß wirklich nicht, mit welchen Worten ich Dir danken soll. Hoffentlich bricht während Deiner Geschäftsreise nach Tokyo nicht all die Müdigkeit, die in Dir steckt, plötzlich aus!
Nach Deinen Plänen, die Du mir vor Deiner Abreise zeigtest, müßtest Du jetzt in Tokyo mit allem fertig sein, und ich stelle mir vor, wie Du Dich in die Waldlandschaft der Izu-Halbinsel verliebt hast, die ja, wie ich weiß, immer so wundervoll heiter ist, mir aber trotzdem oft wie ein auf Porzellan gemaltes, fast melancholisch stimmendes Bild vorkommt. Ich begann diesen Brief heute in der Hoffnung, daß Du ihn noch auf Izu lesen würdest.
Ich hatte vor, Dir einen Brief zu schreiben, nach dessen Lektüre Du Lust verspürst, Dich mitsamt Deiner Pfeife von dem herrlichen Wind mächtig durchblasen zu lassen, aber das will mir nun, so sehr ich mir auch Mühe gebe, nicht gelingen. Ich bin kläglich gescheitert und habe schon eine Menge Briefpapier zerrissen. Dabei hatte ich überhaupt nicht mit irgendeiner Schwierigkeit gerechnet. Ich wollte Dir nur aufrichtig meine Gefühle schildern und Dich in einer gewissen Sache um Deine Zustimmung bitten. Ich hatte mir sorgfältig überlegt, wie ich es Dir sagen könnte, und gewissermaßen alle Vorbereitungen zu diesem Briefe abgeschlossen, aber als ich dann zur Feder griff, drang alles, was ich Dir hatte sagen wollen, entsetzlich verwirrend auf mich ein – ach nein, so war das eigentlich gar nicht. Alle nur erdenkbaren Traurigkeiten stürmten von allen Seiten auf mich los, – so wie an windigen Tagen die weißen Wogenköpfe am Strand von Ashiya zerschellen! Aber ich will diesen Brief doch weiterschreiben …
Lieber Onkel! Soll ich Dir etwas gestehen? Ich weiß alles über Dich und Mama! Ich erfuhr es am Tag vor ihrem Tod. Ich habe heimlich Mamas Tagebuch gelesen.
Wie peinigend und schwierig wäre es gewesen, wenn ich Dir das alles hätte mündlich erzählen müssen. Ich hätte es sicher gar nicht fertiggebracht, Dir zusammenhängend zu berichten. Ich kann das heute nur, weil ich es Dir in einem Briefe schreibe. Aber ich bin keineswegs etwa entsetzt oder ängstlich! Nur sehr traurig! Meine Zunge ist wie gelähmt vor Schmerz. Und ich bin nicht nur wegen Dir oder Mama oder über mich selber betrübt, sondern eigentlich über alles auf der Welt, über den blauen Himmel über mir, den Oktober-Sonnenschein, die Rinde des Lagerströmien-Baumes, die Bambusblätter im Wind, ja sogar über das Wasser, die Steine und den Erdboden. Alles, die ganze Natur hat plötzlich die Farbe der Trauer angenommen. Seit ich Mamas Tagebuch las, weiß ich, daß die Farben der Natur sich täglich zwei- und dreimal, manchmal sogar fünf- oder sechsmal verändern, und daß dies genauso unerwartet geschieht, wie die Sonne sich plötzlich hinter Wolken versteckt. Sobald ich über Dich und Mama nachsinne, ist auf einmal alles um mich anders! Weißt Du, daß es außer den über dreißig Farben in einem Farbtub-Kasten noch eine weitere, für Menschenaugen sehr wohl sichtbare Farbe gibt – die der Traurigkeit?
Aus dieser Affäre zwischen Dir und Mama habe ich gelernt, daß es eine Liebe geben kann, die niemand segnet und die auch von niemandem gesegnet werden kann. Nur Du und Mama, nur Ihr beide, wußtet von Eurer Liebe, niemand anderer sonst, Deine Frau Midori weiß nichts davon, und auch ich nicht; keiner Deiner Verwandten ahnt irgend etwas, und auch die Nachbarn, die gleich neben unserem Hause und auf der anderen Straßenseite wohnen, ja, sogar Deine liebsten Freunde wissen nichts! Und sie sollen es auch nicht erfahren. Jetzt, da Mama tot ist, weißt nur Du allein davon. Und wenn Du später einmal diese Welt verlassen hast, wird sich niemand auch nur träumen lassen, daß es das einmal gab. Ich war bis jetzt überzeugt, daß die Liebe wie die Sonne ist, hell und strahlend, und sie für immer von Gott und den Menschen gesegnet und
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