Das Karpaten-Projekt
trotzdem genau auf sie zu.
Als Erste will sie am Abfall sein, sich die besten Happen sichern. Ihre beiden
Jungen tapern hinterdrein. Das Kerlchen wie immer am Schluss.
Ein kurzes Zögern noch an der Waldkante, ein über die
Schulter geworfener Blick auf die Jungen, dann tritt die Bärin ins Licht.
Leichtfüßig hopst sie auf die Mauer, die die Mülltonnen gegen den Hang abschirmt,
balanciert auf der Krone entlang. Ihre Augen sind auf die Menschen gerichtet.
Seit das Wetter besser ist, warten die abends am Abfall. Nur ein paar Sprünge
entfernt stehen sie und werfen den Jungtieren Leckerbissen zu. Schon steht das
Weibchen auf den Hinterbeinen, versucht die Happen mit dem Maul zu fangen. Ihr
Bruder macht es ihr nach und plumpst prompt auf den Pürzel. Das gackernde
Schreien, in das die Zweibeiner ausbrechen, nervt die Bärin. Sie wufft in
Richtung ihrer Jungen, will sie in der Nähe haben, mit ihnen in Ruhe im Abfall
stöbern. Sie richtet sich auf, legt die Tatzen auf eine Mülltonne und wirft sie
um. Eine Flut von Fressbarem ergießt sich auf den Grund. Auffordernd grunzt die
Bärin den Kleinen zu.
Doch die hören nicht hin. Ganz nahe sind sie den Menschen
gekommen. Das Weibchen tänzelt auf den Hinterbeinen und fängt die Bissen im Fluge.
Der kleine Bär steht auf allen vieren daneben und staunt. Ein Mensch geht auf
ihn zu. In der Hand hält er etwas Helles, das die Bärin nicht kennt. Sie hat
das Fressen unterbrochen. Bewegungslos beobachtet sie den halbwüchsigen Zweibeiner,
der ihrem Jungen auf den Pelz rückt. Nur die nach hinten gelegten Ohren
verraten ihre Erregung.
Der Menschenjunge ist jetzt bei dem zaudernden Bärchen
angekommen. Er hält ihm das weiße Zeug hin. Der Kleine beschnüffelt es,
schlabbert und schlürft. Der Zweibeiner dreht den Bären den Rücken zu. Er ruft.
Die weiter weg stehenden Menschen gackern laut. Das Bärenjunge will mehr von
dem weißen Saft, der fast wie die Milch der Mutter schmeckt. Es umrundet den
Menschen, verschwindet hinter ihm. Die Bärin brüllt auf. Mit drei Sätzen ist
sie bei ihrem Jungen. Wischt den Menschen, der im Weg steht, mit der Pranke
weg. Stubst ihre Kinder vor sich her. Zurück in den Wald. Weg von den Schreien
am Müll.
Die Bärin findet keine Ruhe in dieser Nacht. Überall im
Buchenwald trifft sie auf Artgenossen, die der Lärm der Menschen von den
Fressplätzen vertrieben hat. Jaulen vernimmt sie unten beim Müll, auf- und
abschwellendes Heulen wie von einem verrückt gewordenen Riesenwolf. Kreiselndes
Licht zuckt zwischen den Stämmen. Hungrig durchstreifen die Petze den Wald. Im
Hohlweg trifft die Bärin auf den missmutigen Altbären mit der hängenden
Unterlippe. Schmachtend starrt er ihre Kleinen an. Die Bärenmutter blafft in
die Richtung des Alten, hetzt über den Hügelkamm und verschwindet im Adlerfarn.
Zum Glück folgen ihr die Jungen. Bei einem Stopp vor dem Bachbett bemerkt sie
das Menschenblut, das noch an ihrer Tatze haftet. Schaudernd schleckt sie es
ab.
2
Hannes Schreiber stand allein in einer Ecke des Foyers, nicht
weit von der Drehtür, die draußen Gäste schluckte und drinnen wieder
ausspuckte. Er stützte einen Ellenbogen auf den Stehtisch, saugte an seiner
Zigarette und nickte der Frau vom Empfang zu. In rote Kostüme hatten sie die
Mädels zur Feier des Tages gesteckt, passend zum Licht, das den Glaspalast der Magazin -Redaktion für einen Abend in
eine Lounge verwandelte.
Die Empfangsdame verdrehte die Augen in Schreibers
Richtung. Der wichtigste Kerl der Hauptstadt hatte sich vor ihrem Tresen
aufgebaut und weigerte sich, seinen Namen zu nennen. Weil er der Präsident des
Zentralverbandes der deutschen Alternativmedizin war. Weil er im Magazin, zu dessen Sommerfest 2005 er
gerade eingetroffen war, kürzlich erst zu Wort gekommen war. In einer Titelgeschichte
über Fußpilz, an der Hannes mitgearbeitet hatte. Daher kannte er den Typen.
Schließlich nestelte der Alternativmedizin-Präsident eine
Visitenkarte hervor und schnippte sie auf die Theke. Die Frau vom Empfang nahm
sie mit spitzen Fingern auf, studierte sie sorgfältig, ließ ihr Laptop den dazu
passenden Namen auf der Gästeliste suchen und begrüßte, als er gefunden war,
den Präsidenten aller heimischen Heiler mit einem »Schön, dass Sie da sind,
Herr Müller«.
Der Abend war noch jung. Die Sonne rutschte gerade hinter
die Dächer im Westen, die wirklich wichtigen Gäste ließen sich Zeit. Nur die
Legenden kamen früh. Legenden waren alt und wollten
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