Das Kind, Das Nicht Fragte
Gebräuchen der Untersuchungsregion beinahe bis zur Aufgabe seiner eigenen Identität hin anpassen soll. Konkret bedeutet das, dass man sich als Ethnologe in Sizilien mit einem italienischen Wagen fortbewegen, möglichst gut Italienisch sprechen, sich ausschließlich von italienischer Küche ernähren und in erster Linie mit Sizilianern oder zumindest Italienern verkehren soll. Ein Ethnologe auf Forschungsreise unterscheidet sich durch solche Vorgaben sehr von einem Touristen. Er besucht die Fremde nicht kurz und beobachtet nicht nur oberflächlich ein paar kulturelle Highlights an den Wegrändern, sondern er hält sich vielmehr für längere Zeit an ein und demselben Ort auf, um möglichst tief in das Leben der Einheimischen einzutauchen.
Unter uns Ethnologen gehören die Debatten, ob ein solches Eintauchen in die Fremde überhaupt möglich ist oder ob auch der Ethnologe trotz aller Bemühungen letztlich doch immer ein Fremder bleibt, zu den beliebtesten Themen. Ich will diese Debatten hier keineswegs im Einzelnen aufgreifen, möchte aber doch erwähnen, dass es einigen meiner deswegen zu großer Berühmtheit gelangten Kollegen durchaus gelungen ist, so mit der Fremde und ihren jeweils eigenen Lebensverhältnissen
eins zu werden, dass sie am Ende ihrer Forschungen beinahe schon für Einheimische gehalten wurden. Einige dieser Kollegen sind nach derartigen Erfolgen konsequenterweise auch gar nicht mehr aus der Fremde nach Hause zurückgekehrt, sondern haben ihr Leben ausschließlich in der Fremde weitergeführt. Das führt gar nicht selten zu der letzten Konsequenz, dass sie nämlich ihren Beruf aufgeben und in der Fremde einer anderen Tätigkeit nachgehen. Die meisten von ihnen heiraten außerdem und gründen Familien, die sich später durch besonders zahlreichen Nachwuchs auszeichnen, als wären viele Kinder der letzte und triumphale Beweis dafür, dass es ihnen gelungen ist, mit der Fremde ganz und gar zu verschmelzen.
Teilnehmende Beobachtung gibt es also in verschiedenen Graden. Die meisten Kollegen mischen sich, so gut es eben geht, unter die Einheimischen und versuchen, deren Lebenstempi und Lebensgewohnheiten anzunehmen. Manche scheitern dabei und ziehen sich rasch wieder in ihre heimatlichen Basisländer zurück, andere haben mäßigen Erfolg und kommen mit ein paar meist stark frisierten Forschungsergebnissen nach Hause. Die großen Meister unseres Faches aber tauchen so tief in das fremde Leben ein, dass sie am Ende von Einheimischen kaum noch zu unterscheiden sind.
Draußen auf dem Parkplatz drückt mir der Angestellte der Mietwagenfirma die Autoschlüssel in die Hand und überreicht mir betont lässig die Papiere. Ich sehe, wie die anderen deutschen Reisenden, die doch lange vor
mir an der Reihe gewesen waren, noch immer damit beschäftigt sind, ihre Mietwagen zu begutachten und zu umkreisen. Als der Angestellte zu mir nur knapp Sie wissen ja Bescheid, das ist Ihr Wagen sagt, öffne ich sofort das Heck meines Fiat, verstaue mit ein paar wenigen Handgriffen mein Gepäck, setze mich an das Steuer, lasse das Fenster auf meiner Seite herunter, winke kurz und fahre auf der Stelle los.
Sie wissen ja Bescheid , das hört sich für mich nicht nur gut, sondern geradezu euphorisierend an. Es ist eine Formulierung, die mir bestätigt, dass ich nicht für einen Touristen, sondern für einen Reisenden gehalten werde, der den Einheimischen nahe ist. Eine erste Hürde auf dem Weg zur Teilnehmenden Beobachtung habe ich so bereits souverän genommen. Ich fahre in einem Fiat Richtung Süden, und ich brauche weder eine Landkarte noch andere Hilfsmittel, um mein Ziel, den kleinen Ort Mandlica an der südlichen Küste der Insel, problemlos zu erreichen.
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E IN WENIG kenne ich Mandlica schon, denn ich war in den letzten Jahren schon zweimal jeweils eine Woche dort. Ich habe es als neugieriger Tourist besucht, um vor Ort zu erleben, ob die Herstellung der verschiedensten Dolci die Stadt wirklich zu jenem Süßspeisen-Paradies
gemacht hat, von dem in beinahe jedem Reiseführer in den höchsten Lobestönen die Rede ist. Dann aber hat mich neben der tatsächlich verschwenderischen und hinreißenden Art, wie der Ort seine Dolci in angeblich genau fünfzig Cafés und unzähligen Pasticcerien präsentiert, vor allem die besondere geographische Lage der Stadt angezogen.
Mandlica besteht nämlich aus einer Unter-, einer Mittel-und einer Oberstadt und erhebt sich in diesen drei sehr unterschiedlichen Zonen von der
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