Das Kind, Das Nicht Fragte
majestätische Tonflut nach außen, in die schon leicht verbrannte Graslandschaft, ergießt.
An der nächsten Kreuzung will ich dem Hinweisschild Mandlica folgen und die restlichen drei Kilometer bis hinauf zur Oberstadt besonders langsam fahren, als ich das Handy klingeln höre. Ohne auf das Display zu schauen, weiß ich, dass mein ältester Bruder mich anruft. Ich könnte hohe Wetten darauf abschließen, dass genau er es ist, der mich in diesem Moment meines euphorischen Abhebens stört und aus dem Glücksrhythmus der sizilianischen Lieder bringt. Ich lasse es eine Weile klingeln und fahre dann noch langsamer, um nun wirklich einen Blick auf das Display des Handys werfen zu können. Richtig, Georg, mein ältester Bruder, ruft an, und ich ahne auch bereits, was er von mir will.
Georg ist Anwalt und führt im Kölner Stadtteil Lindenthal eine große Kanzlei in einer beeindruckenden Villa, in der er mit seiner Familie auch wohnt. Neben Georg habe ich noch drei ältere Brüder, Martin, Josef und Andreas, die ebenfalls alle in Köln mit ihren Familien leben. Martin arbeitet als Arzt an den Universitätskliniken, Josef hat eine Apotheke und Andreas ist Studiendirektor für Griechisch und Latein an einem Kölner Gymnasium.
Alle vier sind erheblich älter als ich, eigentlich war meine Existenz wohl auch gar nicht mehr vorgesehen, dann aber kam ich doch noch acht Jahre nach dem vierten Sohn meiner Eltern als fünftes und letztes Kind auf die Welt. Meine Eltern nannten mich Benjamin, und ein echter Benjamin wurde dann auch aus mir. Während der Familienmahlzeiten saß ich zwischen Mutter und Vater und gab den schweigenden Nachkömmling, der den oft lauten Debatten am Tisch nicht folgen konnte. Meine vier älteren Brüder dagegen legten sich bei solchen Gelegenheiten ins Zeug, sie redeten und redeten, sie stritten und gaben den Ton an, während die Eltern sich auf einige Nachfragen oder ein knappes und manchmal ironisches Kommentieren der Tischgespräche beschränkten. Vor allem mein Vater war ein Meister der ironischen Bemerkung, die das Debattieren bei Tisch sogar dann und wann zum Erliegen brachte. Ich bemerkte oft, wie sehr auch ihm die Art meiner Brüder, sich in Szene zu setzen, auf die Nerven ging, doch er sagte niemals etwas offen und direkt gegen diese Unsitte, sondern unterlief das Gespräch höchstens auf feine, diskrete Art mit ein paar trockenen, ironischen Hinweisen und Sätzen.
Von Beruf war er Ingenieur, während meine Mutter als Bibliothekarin im Historischen Institut der Universität Köln arbeitete. Beide sind vor etwa einem Jahrzehnt kurz hintereinander gestorben und haben uns Brüdern das große Wohnhaus in Köln-Nippes hinterlassen, in dem wir – zusammen mit vielen Mietern, verteilt auf vier Stockwerke – unsere Kindheit verbracht haben. Es ist ein sehr schönes, noch zu Lebzeiten der Eltern renoviertes
Haus, das an einem weiten, ovalen Platz mit hohen Pappeln und vielen Rosenbeeten liegt. Im ersten Stock dieses Hauses haben wir fünf Kinder mit den Eltern gewohnt, heute lebe ich als einziger Nachkomme noch immer in unserem Elternhaus.
Ich wohne sehr bescheiden unter dem Dach, in drei kleinen Zimmern mit schrägen Wänden, aber ich wohne genau dort, wo ich unbedingt wohnen möchte. Ich habe nie woanders als in diesem Haus gelebt, ich habe ihm und meiner Familie die Treue gehalten. Selbst während meines Studiums kam es für mich zu keinem Zeitpunkt in Frage, dieses Haus zu verlassen, damals habe ich die kleinen Zimmer unter dem Dach bezogen, und manchmal kam mein guter Vater die Treppen zu mir hinauf und setzte sich in meine Küche, um mit mir ein Kölsch zu trinken und sich nur mit mir allein zu unterhalten.
Natürlich zahle ich meinen Brüdern keine Miete, sie lassen mich mietfrei wohnen und unterstützen mich sogar mit der Hälfte der monatlichen Mieteinnahmen aus dem gesamten Haus, die meinen eigentlichen Lebensunterhalt bilden. Ich bin zwar Privatdozent an der Kölner Universität, erhalte aber kein nennenswertes Gehalt, so dass ich auf diese finanzielle Hilfe angewiesen bin.
Ich gebe zu, dass es mir peinlich ist, mich nicht selbständig ernähren und von einem gescheiten Gehalt leben zu können. Aber es ist mir – schon allein wegen meiner Scheu und meines extrem zurückhaltenden Wesens – nicht gelungen, in der Wissenschaft Karriere zu
machen. Ich habe zwar mit der Bestnote summa cum laude promoviert und mich dann mit einer in Fachkreisen sehr anerkannten ethnologischen Studie
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