Das Kleine Buch Der Wahren Liebe
Erfahrung, dass die Liebe uns zwischen den Fingern zerrinnen kann und dass wir nirgendwo so tief verletzt werden wie gerade in der Liebe. Aber all das spricht nicht gegen die Liebe. Wenn wir nach der Liebe fragen, geht es um etwas anderes: Es geht um die Frage, wie es gelingen kann, auf Dauer zu lieben und so zu lieben, dass es nicht in Chaos und Verletzung endet. Damit die Liebe auf Dauer gelingt, darf ich sie nicht mit dem Gefühl verwechseln. Liebe ist nicht ewiges Verliebt sein. Das Verliebt sein muss sich wandeln zu einer Liebe, die den anderen so annimmt, wie er ist.
|17| Liebe ist nicht dauerndes Glück. Es gibt keine Liebe ohne Schmerz. In der Liebe öffne ich mich dem andern und werde dadurch verletzlich. Ohne diese Offenheit wäre Liebe nicht möglich. In der Liebe zueinander lernen wir uns mit all den Verletzungen kennen, die wir im Leben erfahren haben. Liebe kann verletzen. Und Liebe vermag diese Verletzungen zu heilen.
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In seinem letzten Klavierkonzert variiert Mozart im dritten Satz immer wieder die Melodie, in der er auch sein Lied „Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün. Und lass mir an dem Bache die kleinen Veilchen blüh’n!“ komponiert hat. In diese Melodie hat er seine ganze Liebe, seine ganze Fröhlichkeit hineingelegt. Der Frühling, in dem er es komponierte, sollte der letzte Frühling sein, den er erlebte. Frühling war für Mozart mehr als eine schöne Jahreszeit. Sie war für ihn Überwindung des Todes, Aufbrechen aller Starre, Aufblühen und Grünwerden. All das ist für ihn Symbol für eine tiefere Wirklichkeit, letztlich für die Wirklichkeit der Auferstehung, für den Sieg der Liebe über den Tod, für den Sieg des Lebens über alle Erstarrung.
Wenn in der Schöpfung alles aufblüht, dann ist das mehr als Lebenskraft der Natur. Die Menschen – und sicher auch Mozart – haben darin eine größere Liebe gesehen, die nicht nur die Natur zum Blühen bringt, sondern auch das menschliche Herz. Menschen blühen auf, wenn sie lieben. Sie bekommen etwas von der Schönheit und Zärtlichkeit, die Mozart in seine Melodie hineingelegt hat. |19| Wenn ich eine Blume zart streichle, wenn ich mich im Wind streicheln lasse, dann kann das zu einer genauso intensiven Erfahrung der Liebe werden wie menschliche Berührung. Es kommt nur darauf an, dass ich an die Liebe Gottes glaube, die mich durch die Schöpfung umarmen möchte, und dass ich sie leibhaft zulasse.
Es gibt Menschen, denen man an ihren Augen ansieht, dass sie voller Liebe sind, dass sie ganz und gar durchlässig sind für die göttliche Liebe. Diese Menschen sind nicht verliebt in einen andern, sie strahlen in ihrem ganzen Dasein Liebe aus.
Ihre Liebe gilt jedem Menschen, dem sie begegnen. Sie können sich jedem mit ungeteiltem Wohlwollen zuwenden. Ihre Liebe gilt den Tieren, den Pflanzen, einer Statue, einem Bild, der Musik. Sie gilt jedem Augenblick. In ihrer Nähe fühlt man sich wohl.
Sie strahlen Liebe aus. Man kann es nicht genau beschreiben, was da in uns vorgeht, wenn wir solchen Menschen begegnen. Aber irgendwie fühlen wir uns angenommen, ernst genommen, geachtet, geliebt. Unser Herz taut auf. Wir fühlen uns frei. Wir müssen nichts mehr verbergen. Wir dürfen so sein, wie wir sind. Ihre Hände haben etwas Zärtliches an sich. Ihre Augen sind eine Einladung, einfach zu sein.
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„Wem nicht durch Liebe Leid geschah, der hat auch nie Freude durch Liebe erfahren.“ Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat in der Todesanzeige für seine Frau Teofila, die mit ihm durch Verfolgung, Exil und die Jahre seines Erfolgs ging, dieses Wort des mittelalterlichen Dichters Gottfried von Strassburg gesetzt. Es steht da als Motto für die Liebe zu seiner Frau: Reich-Ranicki meint mit dem Leid nicht zuerst das Leid, das das jüdische Ehepaar in der Verfolgung und im Exil durchlebt hat. Sicher: Die Liebe hat sie gestärkt, das Leid, das von außen kam, zu ertragen. Sie haben sich in der Liebe gegenseitig getragen. Mit diesem Wort ist noch etwas anderes ausgesagt: Es geschieht uns Leid auch durch die Liebe. Gerade indem wir uns lieben, tun wir uns gegenseitig Leid an. Es gibt keine Liebe ohne Leiden. Liebe kennt nicht nur das Glück, sondern auch den Schmerz. Denn je näher wir dem anderen in der Liebe kommen, desto offener werden wir. Ohne Offenheit ist Liebe nicht möglich. Und in dieser Offenheit sind wir auch verletzlich. Und es gibt keine Liebesbeziehung, in der sich die Liebenden immer auch
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