Maenner fuers Leben
Eins
Es passierte genau hundert Tage, nachdem ich Andy geheiratet hatte, fast auf die Minute zum Zeitpunkt unserer Trauung um fünfzehn Uhr dreißig. Das weiß ich weniger deshalb, weil ich eine übereifrige Jungvermählte war, die jeden trivialen Meilenstein ihrer Beziehung im Gedächtnis behielt, sondern eher, weil ich wegen einer leichten Zwangsstörung gern den Überblick über solche Dinge behalte. Ich zähle ständig belangloses Zeug, zum Beispiel, wie viele Schritte ich von meinem Apartment zur nächsten U-Bahn brauche (341 in bequemen Schuhen, ein Dutzend mehr auf hohen Absätzen), wie oft in jeder beliebigen Folge von The Bachelor gesagt wird: «zwischen uns gibt es eine unglaubliche Verbindung» (immer zweistellig), oder die Zahl der Männer, die ich in den dreiunddreißig Jahren meines Lebens geküsst habe (neun). Oder eben, wie an diesem regnerischen, kalten Nachmittag im Januar, seit wie vielen Tagen ich verheiratet war, als ich ihn genau in der Mitte des Zebrastreifens an der Ecke 11th und Broadway sah.
Von außen betrachtet – sagen wir, für einen Taxifahrer, der zusah, wie hektische Fußgänger in den letzten Sekunden, ehe die Ampel umsprang, über die Straße hasteten – war es ein alltägliches Geschehen: zwei Leute, die außer ihren zerzausten Regenschirmen wenig gemeinsam haben, begegnen sich an einer Kreuzung, schauen einander flüchtig in die Augen, wechseln ein steifes, aber nicht unfreundliches Hallo und gehen dann weiter.
Aber innerlich war es eine ganz andere Sache. Innerlich herrschte Taumeln und Brausen, als ich mich atemlos auf den Bordstein und in ein buchstäblich leeres Schnellrestaurant am Union Square rettete. Als hätte sie ein Gespenst gesehen , dachte ich – auch so ein Ausdruck, den ich schon tausendmal gehört hatte, ohne je darüber nachzudenken. Ich klappte den Schirm zu und zog den Reißverschluss an meiner Jacke auf und hatte immer noch Herzklopfen. Ich sah zu, wie eine Kellnerin energisch einen Tisch abwischte, und fragte mich, warum ich über die Begegnung so erschrocken war, wenn dieser Augenblick doch immer absolut unausweichlich gewesen war. Vielleicht nicht in irgendeinem großen, schicksalhaften Sinn, aber mit stiller Hartnäckigkeit zwingen unerledigte Angelegenheiten dem Widerwilligen ihren Willen auf.
Es schien eine Ewigkeit gedauert zu haben, bis die Kellnerin mich hinter dem «Bitte warten Sie hier»-Schild entdeckte. «Oh», sagte sie, «ich habe Sie nicht gesehen. Hätte das Schild nach dem Lunchbetrieb wegnehmen sollen. Setzen Sie sich ruhig, wohin Sie wollen.»
Ihr Gesichtsausdruck kam mir so merkwürdig mitfühlend vor, dass ich mich fragte, ob sie nebenher als Hellseherin arbeitete, und ich überlegte mir wirklich, sie ins Vertrauen zu ziehen. Aber stattdessen rutschte ich auf eine mit rotem Vinyl bezogene Bank an einem Tisch in der hinteren Ecke und schwor mir, niemals darüber zu reden. Einer Freundin meine Gefühle zu offenbaren, wäre ein Akt der Illoyalität gegen meinen Mann. Meiner älteren, äußerst zynischen Schwester Suzanne davon zu berichten, würde womöglich einen Sturm von ätzenden Bemerkungen über Ehe und Monogamie entfesseln. Irgendetwas über die Sache in mein Tagebuch zu schreiben, würde sie in ihrer Bedeutung überhöhen, und das würde ich auf gar keinen Fall tun. Und es Andy zu erzählen, wäre dumm, selbstzerstörerisch und verletzend zugleich. Die Unterlassungslüge bedrückte mich; unserer jungen Ehe würde ein erster kleiner Makel anhängen, aber ich fand, es war am besten so.
«Was kann ich Ihnen bringen?», fragte die Kellnerin, auf deren Namensschild Annie stand. Sie hatte lockige rote Haare und ein paar Sommersprossen, und ich dachte: Morgen scheint die Sonne .
Ich wollte nur einen Kaffee, aber als frühere Kellnerin wusste ich noch, wie deprimierend es war, wenn Leute – auch wenn eigentlich nicht Essenszeit war – nur ein Getränk bestellten. Also sagte ich, ich hätte gern einen Kaffee und einen Mohnbagel mit Creamcheese.
«Aber gern.» Sie nickte freundlich.
Ich bedankte mich lächelnd. Sie ging in Richtung Küche, und ich atmete aus und schloss die Augen und konzentrierte mich auf einen Gedanken: wie sehr ich Andy liebte. Ich liebte alles an ihm, auch das, was den meisten Frauen auf die Nerven gegangen wäre. Ich fand es liebenswert, dass er sich keinen Namen merken konnte (er nannte meinen früheren Boss routinemäßig Fred statt Frank) und nicht mal bei den größten Pop-Klassikern den Text behielt
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