Das kleine Buch vom Riechen und Schmecken
duftende Gegenstand gibt winzigkleine Moleküle in die Luft ab, weiche Materialien mehr als harte und heiße mehr als kalte. Die Duftmoleküle schwirren wie Staubkörner in der Luft umher. Die menschliche Riechschleimhaut ist mit fünfzehn Millionen Riechzellen pro Nasenseite ausgestattet. Jede dieser Zellen besteht aus einem ovalen Zellkörper, aus dem nach oben eine feine, zentimeterlange Nervenfaser ragt – der Verbindungsdraht ins Riechhirn. Um den Zugang zum Gehirn zu ermöglichen, hat unser Schädel an dieser Stelle kleine Löcher wie ein Sieb. Nach unten wachsen aus einem kolbenförmigen Fortsatz der Riechzelle zwanzig bis dreißig kleine Fäden, die Zilien, hervor, die in den Nasenschleim hineinragen. In den Zilien sitzen die Duftsensoren, die sogenannten Riechrezeptoren, an die die Duftmoleküle andocken.
Die Natur hat jeden Menschen, egal ob Europäer, Asiat, Australier oder Afrikaner, mit dem gleichen Repertoire von dreihundertfünfzig verschiedenen Typen dieser Riechrezeptoren ausgestattet, jeder spezialisiert auf einen bestimmten Duft wie zum Beispiel Vanille oder Moschus. Jedoch besitzt jede unserer dreißig Millionen Riechsinneszellen in ihren Zilien immer nur eine Sorte von Rezeptoren, davon allerdings viele tausend. Wenn wir also an Vanillezucker riechen, müssen die Vanillinmoleküle die Riechzellen finden, die den entsprechenden Rezeptor für Vanillin tragen, um dort anzudocken. Bisher sind allerdings erst von etwa zwanzig Rezeptoren die passenden Düfte entschlüsselt, die meisten von unserem Labor an der Ruhr-Universität Bochum.
Das Duftmolekül passt zum Riechrezeptor wie ein Schlüssel zum Schloss. Der Rezeptor kann die chemische Botschaft nicht nur lesen, sondern auch vervielfältigen und veranlassen, dass massenhaft Botenstoffe in der Riechzelle entstehen und einen elektrischen Impuls erzeugen.
Dieser wird über die Nervenfasern blitzartig ins Gehirn geleitet und informiert es darüber, dass ein Hauch von Vanille in der Luft liegt. Die meisten Düfte, wie zum Beispiel Kaffee, setzen sich allerdings aus einer Mischung von vielen verschiedenen Duftmolekülen zusammen. Entsprechend werden viele unterschiedliche Riechzelltypen zur gleichen Zeit aktiviert und lassen im Gehirn das »Kaffee-Muster« entstehen. Genauso wie Buchstaben ein Wort bilden. Und wie ein Buchstabe in vielen Wörtern auftaucht, können auch einzelne Duftmoleküle in vielen Mischungen vorkommen. Unser Duft-Alphabet hat dreihundertfünfzig Buchstaben, Duftwörter können ganz kurz oder über hundert Buchstaben lang sein, während das längste im Duden verzeichnete Wort nur 67 Buchstaben hat (Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung). Jean-Baptiste Grenouille, das Duftgenie aus dem Buch Das Parfum konnte dank seiner Supernase sogar Ulmen- von Birnbaumholz unterscheiden. Er wusste nach dem Geschmack von Milch auch zu sagen, von welcher Kuh sie stammte und was diese vorher gefressen hatte. Geübte Weintester kommen dem schon sehr nahe, wenn sie zum Beispiel das genaue Anbaugebiet oder sogar den Jahrgang eines Weines erkennen können. Seien Sie nicht enttäuscht, wenn Ihnen das nicht gelingt! Denn das Gehirn muss all die komplexen Duftwörter abspeichern und lernen. Kein Wunder, dass man viel Training braucht, um Düfte zu unterscheiden. Und wie beim Klavierspielen oder im Sport gilt auch beim Riechen: Nicht jeder Mensch hat das Talent zum Superstar.
Die Welt der Anti-Düfte
Im Alltag ist es nicht immer von Vorteil, eine gute Nase zu haben. Oft bringen uns die Gerüche um uns herum zur Verzweiflung. Wenn wir unseren Trainingspartnern im Fitness-Studio allzu nahe kommen oder in einer voll besetzten U-Bahn dicht an den Nebenmann gedrückt ausharren müssen. Auch der allzu großzügige Gebrauch von Parfum – meist von der Dame, die im Theater direkt vor uns sitzt – kann nicht nur einem empfindlichen Menschen gründlich die Laune verderben.
Unsere Großmütter griffen in solchen Situationen zum Riechfläschchen, um die aufkommende Übelkeit zu bekämpfen und die unweigerlich folgende Ohnmacht zu verhindern. Und vielleicht greifen wir bald wieder zu ähnlichen Maßnahmen. In unserem Bochumer Labor haben wir entdeckt, wie wir unsere Nase für einzelne Düfte unempfindlich machen können. Dabei half uns, wie so oft in der Wissenschaft, der Zufall. Eine Maiglöckchen-Duftmischung, mit der wir experimentierten, roch plötzlich nicht mehr nach Maiglöckchen. Warum?, fragten wir uns. Verantwortlich
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