Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
Berolina, die Göttin der Dämmerung.
Die Bürgersteige sind mit Kot gepflastert. Gäbe es nicht Lebewesen in den heraufbeschworenen Slums, die sich von diesem Schmutz ernähren, man könnte ohne Stelzen gar nicht gehen.
Einer geht auf Stelzen, schwankt im stärker gewordenen Wind.
Es ist ein Karneval der Kulturen.
Halbnackte Brasilianerinnen tanzen schlotternd im Graupelregen. Das Getrommel übertönt noch das Geschnarre aus Lautsprechern. An diesem einen Tag trinkt der Berliner Caipirinha statt Futschi, um sich exotischer zu fühlen. In selbstgehäkelten Kostümen hüpfen Arbeitskreise verbissen zur Lebensfreude entschlossener Mittvierzigerinnen vorüber.
Das Mädchen steht unter einer Ampel, alle Lichter außer Kraft gesetzt. Sie wendet sich uns langsam zu.
»Sieben zu null steht es in Hiob Montags ungeheuerlichem Spiel. Sieben Punkte erst hat er errungen für all die Überrestgeschöpfe, Elektrokutierten, Kriegsversehrten, Blutdürstenden und auch Selbstmörderinnen, deren Schicksale unter seiner mitleidlosen Hand zur Neige gingen. Achtundsiebzig Punkte benötigt er, um das Spiel zu gewinnen und sich zum strahlend neuen König des Wiedenfließes ausrufen zu lassen. Siebzehn Punkte sind der bisherige Weltrekord, gehalten von einem in allen Historien vergessenen chinesischen Bauernmädchen. Neun neue Fälle umfasst dies zweite Buch. Der Weltrekord ist also in Reichweite. Ein Punkt bringt ein Prognosticon, drei Punkte eine Manifestation. Aber wird Hiob immer zu null spielen können? Ist es nicht auch denkbar, dass das Wiedenfließ Punkte macht und den Abstand verringert, näher kommt wie ein heranrasender Güterzug, um mit jedem einzelnen von Hiobs Punkten die Menschheit zu strafen für ihre niemals überwundene Unduldsamkeit? Ist es nicht auch denkbar, dass der jugendliche Hiob Montag keinen Gedanken an dergleichen verschwendet, berauscht vom Zu-Null-Erfolg des bisherigen ersten Buches?«
Sie streicht sich die langen Haare aus dem Gesicht und sieht sich um.
»Er ist hier irgendwo, der Spieler. Streicht herum an den Rändern der Vergnüglichkeit, verborgen in den Drogenhändlergestrüppen des Volksparks Hasenheide. Er ist immer dort, wo Menschen guter Dinge sind. Er ist der Moment, wo das Gute aufhört, zum Lächeln zu bringen, und in Besorgtheit und Beklemmung übergeht.
Ach, Hiob.
Schon bald wirst du ein Bild von mir sehen, in einem deiner Träume, schon bald. Doch wirst du dich an mich erinnern, wenn auch dieses Buch zur Neige geht?«
Kinder rempeln gegen das Mädchen.
Sie löst sich zögernd von der toten Ampel, geht ein und lässt sich treiben in den grauen alltäglichen Umzug der müllübersäten Trottoirs.
Prognosticon 5: Muss noch runter
Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.
(Georg Trakl)
Zwischen den ausgebombten Ruinen brannten wild lodernde Feuer. Davon abgesehen war es Nacht.
Arvec kehrte zurück aus dem Niemandsland und zog an einem ausgefransten Seil einen Käfig ohne Rollen hinter sich her. In dem Käfig war ein Hund, ein ziemlich großer mit dichtem schwarzen Fell, der sich in dem engen Metallkasten kaum bewegen konnte.
Janko warf Arvec eine Bierdose zu, der fing sie grinsend mit der Linken, entschnappte sie einhändig wie eine Handgranate und bog sich beim Saufen weit nach hinten zurück. Joran und Zivorad konnten den Gestank von Arvecs schwerem Khakimantel riechen.
»Wie sieht’s aus da hinten?«, fragte Joran, um den Gestank zu übertönen.
Arvec rülpste brüllend. »Schön. Es ist schön da draußen. Das Paradies. Hier, ich hab euch was mitgebracht, Jungs. Ich will euch was zeigen. Hilf mir mal, Janko, fass mit an. Aber komm nicht auf die Idee, den Käfig anzufassen, hörst du? Sonst hast du keine Hände mehr.« Janko half Arvec missmutig, den Käfig mit dem knurrenden Rüden über ein paar überlappende Trümmer zu schleifen. Es war eine beschissene, unnötige Arbeit. Janko schürfte sich einen Handballen auf und fluchte. Arvec lachte.
»Wo hast du den her? Wo hast du den aufgetrieben?«, fragte Joran, dem jetzt so mulmig wurde, dass er tatsächlich aufstand und vor Arvec und dem Käfig zurückwich.
»Den haben sie zurückgelassen«, grinste Arvec. »Ist zu groß, das Vieh, zum Mitnehmen. Frisst mindestens zwei Kilo Fleisch am Tag, wer kann sich so was schon leisten. Gib mir mal dein Scheiß-Gewehr rüber, Zivorad.«
»Seh ich behindert aus?«
»Ja, natürlich siehst du
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