Das Lächeln der Sterne
Weihnachtsessen zu ihnen kam, oder wie Jean reagieren würde, wenn Adrienne gleich nach Neujahr in der Pension ein Zimmer auf ihre beiden Namen buchte. Zweifellos würde Jean eine Augenbraue hochziehen, dachte Adrienne lächelnd. So, wie sie ihre Freundin kannte, würde sie nichts sagen, aber mit selbstzufriedener Miene herumlaufen und so tun, als hätte sie es von Anfang an gewusst und mit dem Besuch gerechnet.
Als Adrienne jetzt mit ihrer Tochter in der Küche saß, dachte sie an diese Pläne und daran, dass sie damals manchmal fast geglaubt hatte, es sei alles wirklich so geschehen – so lebhaft hatte sie sich die Szenen vorgestellt. Aber in letzter Zeit hatte sie sich das gezwungenermaßen abgewöhnt, denn auf die Freude an diesen Fantasien folgte immer eine allzu große Traurigkeit, die ein Gefühl der Leere in ihr hinterließ.
»O Mann«, murmelte Amanda, als sie das Blatt gelesen hatte und es ihrer Mutter zurückgab.
Adrienne faltete es entlang der alten Knicke, legte es zur Seite und nahm das Foto zur Hand, das Mark von Paul gemacht hatte.
»Das ist er«, sagte sie.
Amanda nahm das Foto. Trotz seines Alters war der Mann attraktiver, als sie es sich vorgestellt hatte. Eingehend betrachtete sie die Augen, die es ihrer Mutter so angetan hatten, dann lächelte sie.
»Ich verstehe, warum du dich in ihn verliebt hast. Hast du noch andere Fotos?«
»Nein«, sagte Adrienne, »nur das eine.« Amanda nickte und blickte wieder auf das Bild.
»Du hast ihn gut beschrieben.« Sie zögerte. »Hat er dir mal ein Foto von Mark geschickt?«
»Nein, aber sie sehen sich ähnlich«, sagte Adrienne.
»Hast du ihn mal gesehen?«
»Ja«, sagte sie.
»Wo?«
»Hier.«
Amandas Augenbrauen schossen in die Höhe. »In unserem Haus?«
»Er hat da gesessen, wo du jetzt sitzt.«
»Und wo waren wir?«
»In der Schule.«
Amanda schüttelte heftig den Kopf, als müsste sie diese Information erst einmal verdauen. »Deine Geschichte bringt mich ganz durcheinander«, sagte sie.
Adrienne wandte den Blick ab und stand vom Tisch auf. Während sie die Küche verließ, flüsterte sie: »Was glaubst du, wie es mir ergangen ist?«
Im Oktober hatte sich Adriennes Vater leicht von den Schlaganfällen erholt, doch nicht so weit, dass er aus dem Pflegeheim entlassen werden konnte. Adrienne hatte ihn das ganze Jahr über wie immer besucht, ihm Gesellschaft geleistet und sich die größte Mühe gegeben, ihm das Leben angenehm zu machen.
Sie hatte ausgerechnet, dass sie seinen Aufenthalt im Pflegeheim bei sorgsamer Haushaltsführung bis April würde bezahlen können, aber wie es danach weitergehen sollte, war ihr ein Rätsel. Wie die Schwalben, die immer wieder nach Capistrano kamen, war dies eine Sorge, zu der ihre Gedanken immer wieder zurückkehrten. Gleichzeitig bemühte sie sich, sich ihrem Vater gegenüber nichts anmerken zu lassen.
Wenn sie bei ihm ankam, lief meistens der Fernseher bei voller Lautstärke, als glaubten die Schwestern, dass Lärm seinen umnebelten Verstand klären könnte. Jedesmal schaltete Adrienne als Erstes den Apparat ab. Außer ihr als seiner einzigen regelmäßigen Besucherin sah ihr Vater nur die Schwestern des Pflegeheims. Sie verstand zwar, warum ihre Kinder ihn nicht gern besuchten, wünschte sich aber, sie würden es trotzdem tun. Nicht nur ihres Vaters wegen, der sie gern gesehen hätte, sondern auch um der Kinder willen. Adrienne hatte immer die Auffassung vertreten, dass es wichtig war, Zeit mit der Familie zu verbringen, in guten wie in schlechten Zeiten, weil man viel daraus lernen konnte.
Ihr Vater konnte nicht mehr sprechen, aber sie wusste, dass er alles verstand, wenn man mit ihm redete. Durch die Lähmung der rechten Gesichtshälfte war sein Lächeln schief, was sie sehr berührte. Es erforderte menschliche Reife und Geduld, an dem Äußeren vorbei den Mann zu sehen, der er einst gewesen war. Und obwohl ihre Kinder eigentlich dazu in der Lage waren, fühlten sie sich die meiste Zeit, wenn Adrienne darauf bestand, dass sie zu einem Besuch mitkamen, unbehaglich. Es war, als sähen sie in ihrem Großvater eine Zukunft, die ihnen eigentlich unvorstellbar war, und als ängstigte sie der Gedanke, sie könnten selbst so enden wie er.
Adrienne schüttelte jedes Mal zunächst seine Kissen auf, bevor sie sich neben sein Bett setzte. Dann nahm sie seine Hand und fing an zu erzählen. Meistens berichtete sie ihm von den Dingen, die in ihrem Leben passiert waren, auch darüber, wie es den Kindern ging,
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