Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
gefragt, antwortet Mama. »Weißt du, wir bleiben sowieso nicht lange hier.«
»Weil es nicht das Wallis ist«, rate ich.
»Ja, auch deshalb.«
Frau Eisenmann hat zwei Söhne, die schon groß sind. Ihr Mann ist so dünn, dass ihm die Hosen ohne Hosenträger herunterrutschen würden. Weil er Rosen züchtet, redet er am liebsten vom Garten. Rosen züchten sonst nur die Pensionierten, sagt Mama. Herr Eisenmann ist aber noch nicht so alt, wie er aussieht, er ist Direktor in einer Fabrik. An seinem Türmchenhaus klettert der Efeu bis ins oberste Fenster. Mama nennt es
Spinnenparadies
. Sie und ich würden nie dort schlafen, wir müssen bloß an eine Spinne denken, und schon bekommen wir Hühnerhaut. Manchmal kann Mama sie zertreten, bevor Papa sie rettet. Auch Anton hat vor den grausigen Viechern Angst. Weil meine Angst aber größer ist, kann er so tun, als hätte er keine.
Mir gefällt Jean besser als sein jüngerer Bruder, der immer so wichtig tut. Jeans Schlitzaugen lachen ständig, besonders jetzt, wenn er von seinem Doktorvater erzählt. Ich glaube ihm das natürlich nicht, ich weiß genau, dass alle Kinder nur einen Papa haben. Jean gibt Mama Englischstunden, sie setzen sich dazu in den Erker. Während Frau Eisenmann in der Küche zu tun hat, sollen wir im Garten spielen. »Passt beim Schaukeln auf, das Brett ist morsch!«
Anton schaukelt viel höher, als er dürfte. »Schau«, ruft er stolz … Und fällt kopfvoran ins Gras. Heulend rennt er ins Haus.
Mama muss manchmal nach Basel, um unter die Leute zu kommen. Heute geht Papa auch mit, deshalb hat sie das Abendkleid angezogen. Sie wollen ins Stadttheater zu den
Räubern
, aber es sind keine Räuber für Kinder. Märchen spielen sie erst vor Weihnachten. Wenn wir lieb sind, dürfen wir
Schneewittchen
sehen. Ich freue mich auf Basel, ich bin dort zur Welt gekommen. Anton auch. Gottlob erst, nachdem das mit den Bomben zu Ende war. Wir sollen dankbar sein, dass wir keine Kriegskinder sind und liebe Eltern haben und alles, was wir brauchen. Was ich sicher nicht brauche, ist ein Bügeleisen, wiederholt Mama, nachdem sie sich die Lippen geschminkt hat.
»Seid lieb und macht, was Gertrud sagt!«
Anton und ich winken dem Auto nach.
Obwohl ich Frau Brogli ein bisschen fürchte, wenn wir nur mit dem Dienstmädchen zuhause sind, läute ich an ihrer Tür.
Dreimal muss ich drücken, bis sie öffnet.
»Grüezi, Frau Brogli, soll ich Ihnen beim Glätten helfen?«
»Ich habe nichts zum Bügeln.«
»Darf ich trotzdem ein bisschen zu Ihnen kommen? Sie haben ein so schönes Bügeleisen …«
»Nein, meine Liebe, das ist nichts für kleine Kinder!«
»Aber es hat ja gar keinen Strom!«
»Deshalb ist es eben nichts für Kinder, es ist antik!«
»Was ist antik?«
»Antik heißt, dass es nichts für wilde Mädchen ist, geh, spiel du mit deinem Bruder!«
»Aber ich mache es ganz sicher nicht kaputt, ich verspreche es!«
»Du sollst jetzt hinaufgehen, habe ich gesagt! Wann müsst ihr eigentlich ins Bett?!«
Während Gertrud kocht, spielt Anton mit mir
Tour de Suisse
. Sein Klötzchen ist rot und heißt Kübler, meines ist blau und heißt Koblet. Aber ich verliere dauernd. Kaum bin ich ganz nahe, kurvt Anton einfach um die Taburettbeine davon … Gertrud mahnt ihn, mich auch mal gewinnen zu lassen.
Vor dem Einschlafen erzählt sie uns
Die Goldkinder
, ich darf ihre dicken Zöpfe öffnen und das Haar glatt kämmen.
»Was wäre gewesen, wenn die Hexe den Prinzen nicht mehr lebendig gemacht hätte?«
»Dann wäre er noch heute ein Stein«, sagt Gertrud und löscht das Licht. Sie hat den Eltern versprochen, bis zu deren Rückkehr in der Wohnung zu bleiben.
»Vielleicht gibt es bei uns auch Hexen«, flüstere ich ins Dunkel.
Anton meint, die gebe es nur in den Märchen. Doch so ganz sicher tönt er nicht.
»Wenn es Hexen gäbe, könnten sie dann auch gewöhnliche Geschwister verzaubern?«
Er glaubt, ja.
»Unser Dorf«, erkläre ich ihm, »heißt Stein, weil es hier ein verhextes Kind gibt!«
Nun macht Anton Licht und holt Gertrud aus der Küche.
Beim Frühstück sagt Mama, Frau Brogli habe sich beschwert, ich sei vorlaut und frech. Ich darf nie mehr bei Frau Brogli läuten. Mama ist aber überhaupt nicht böse auf mich. Anton hingegen lässt ihr Gesicht traurig werden. Trotz des heftigen Regens will er nicht, dass sie ihn zum Schulhaus bringt. Ein Erstklässler braucht keine Begleitung mehr! Er schaut nicht einmal zum Fenster herauf, als er auf der Straße
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