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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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dann eines seiner Taschentücher mit den schwarzen Rändern. »Ob du im Himmel deine Notenblätter vermisst? Schau, liebe Großmama, ich lege sie für dich vom Ständer hier auf den Sims und öffne das Fenster einen Spalt breit. Gell, Papa hat früher mit dir Geige gespielt – und diese Mandoline, gehört sie einer Tanta? Weißt du, weil du tot bist, macht in dieser traurigen Wohnung niemand mehr Musik. Sobald ich zur Schule gehe, lerne ich Blockflöte, dann werde ich dir etwas vorspielen.« In den Stuhl, auf dem Großmama fotografiert worden ist, setze ich mich lieber nicht. Davor liegt ein Fell mit einem Tierkopf, auf dem Foto sieht man es nicht. Würde man es sehen, würde Tanta Bethli darauf herumkrabbeln. Und Onkel Arthur, Papa, Onkel Heinrich und Tanta Helen sässen im Halbkreis auf dem Salonteppich, sie sind alle wieder so klein wie ich und hören Großmama zu. Sie berichtet ihnen vom Heiland: »Bald gehe ich zu ihm in den Himmel und werde von oben herab für euch beten, dass ihr gute Asketen werdet.« Da die Kinder zu weinen beginnen, erzähle ich ihnen das
Schneewittchen
und wie es vom Tod wieder aufwacht. Das Klavier an der Wand zum Fenster glänzt wie Papas Tanzschuhe. Ich würde gerne den Deckel öffnen und ein bisschen auf den Tasten herumdrücken. Aber Großpapa kann plötzlich in einem Türrahmen stehen, selbst dann, wenn ich denke, er arbeite in seinem Büro. Anton behauptet, eine Wohnung sei nie traurig. »Traurig«, sagt er, »sind nur Menschen, zum Beispiel Mama, wenn du nicht lieb bist.«
    Und heute schimpft sie mit mir noch vor dem Frühstück.
    »Aber ich wollte doch lieb sein, deshalb habe ich sie ja gefüllt, damit Großpapa keine kalten Füße haben muss!«
    »Was hast du überhaupt in seinem Schlafzimmer zu suchen?! Alles ist nass, bis auf die zweite Matratze hinunter ist alles nass!«
    Bei Tisch diskutieren die Großen glücklicherweise wieder über Helsinki und irgend so Medaillen und nicht mehr über die Bettflasche. Auch ist Großpapa Gott sei Dank schon im Büro. Er redet dort mit Leuten, die ihn brauchen, weil sie etwas getan haben, das sie nicht hätten tun sollen, oder etwas nicht getan haben, das sie hätten tun sollen. Jedenfalls brauchen sie Großpapas Hilfe. Und weil ihnen der Adler über dem Pult Angst macht, sagen sie die Wahrheit. Lügt einer trotzdem, beginnt der Adler mit seinen Flügeln zu flattern. Den Hakenschnabel hat er zum Zubeißen ein wenig offen.
    Zwischen den Besuchen der Klienten trinkt Großpapa gerne eine Tasse Tee, heute mit Papa. Sie müssen etwas besprechen, ich soll das Zimmer verlassen. Am Ende des Korridors kann ich direkt in Großpapas Büro hineingehen, die Tür ist nur angelehnt, die zweite Tür zum Treppenhaus hat er abgeschlossen. Ich verstecke mich hinter einem der dicken Vorhänge beim mittleren Fenster.
    Großpapa kommt herein, setzt sich ans Pult, nimmt ein Mäppchen heraus, liest. Ich stehe ewig mucksmäuschenstill, bis es klopft und Großpapa öffnet. Er gibt einem dünnen Mann ohne Krawatte die Hand. Dieser nickt mit dem Kopf wie die Negerlein im Pfarrsaal, wenn wir eine Münze in ihren Schlitz werfen. Der Mann setzt sich vor dem Pult auf jenen Stuhl, der näher beim Ausgang ist. Von meinem Versteck aus sehe ich nur seinen Hinterkopf. Er ist ein Dieb oder sonst ein Strolch, auf seiner Glatze hat er eine Narbe. Die Augen des Adlers spähen böse zu ihm hinab. Noch bevor es interessant wird, muss ich husten.
    Wenn ich je wieder in Großpapas Büro gehe, zieht Papa den Gürtel aus seiner Hose und gibt mir aufs Blutte! Doch das glaube ich ihm nicht. Und morgen fahren wir sowieso weiter, um in Visp auch Großmama Cécile zu besuchen. Ich habe sie lieber als Großpapa.
Männer heiraten keine Lehrerinnen
    Ich habe Großmama schon gern, aber nicht so, dass ich bei ihr bleiben will. Das muss ich aber. Für meinen Keuchhusten ist die Luft nirgends gesünder als im Wallis.
    »Ja«, sagt Mama, »dü bisch mis Schazzji, aber sei jetzt lieb und hör zu flennen auf.«
    Bevor sie abfahren, schlage ich mit dem Schuh gegen das Auto. Großmama zieht mich weg.
    Wenigstens gibt es hier noch Tanta Amanda und Tanta Isabella. Heute haben wir zusammen Joghurt gemacht. Es ist weniger gut als das gekaufte, dünn und ohne Goût. Dafür kostet es weniger. Großmama muss sparen, weil Papa Hans gestorben ist. Früher haben sie das riesige Haus vom Keller bis zum Dach bewohnt, jetzt sind die unteren Etagen vermietet.
    »Wir brauchen das Geld, wir sind nicht mehr reich!«

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