Das Leben ist ein Kitschroman
1
Meine innere Uhr hatte von Anfang an eine Macke. Das zeigte sich schon bei meiner Geburt: Ich kam zwei Wochen nach dem errechneten Termin zur Welt und auch in den 25 Jahren danach war ich immer zu spät dran.
Außer beim Sex. Da stimmte mein Timing immer.
Leider hatte ich schon länger keinen Sex mehr gehabt. Das lag zum einen daran, dass ich die vergangenen zehn Monate mit den Vorbereitungen meines BWL-Examens liiert gewesen war und zum anderen, weil ich ...
»Da bist du ja endlich!« Noch bevor mein Zeigefinger den Klingelknopf erreichte, hatte meine Mutter die Haustür auf und mich aus meinen Gedanken gerissen.
»Wir hatten sieben Uhr gesagt, wenn mich nicht alles täuscht.«
Sie sah demonstrativ auf ihre Uhr.
»Hi, Mam!« Ich hauchte ihr ein Küsschen auf die perfekt gepflegte Wange. »Tut mir leid, ich habe die U-Bahn verpasst.«
»Wer auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, geht auf Nummer sicher und nimmt mindestens eine Bahn früher!« Meine Mutter ging stets auf Nummer sicher und wurde nicht müde zu betonen, dass sie es dieser Eigenschaft verdankte, sowohl erfolgreiche Anwältin, als auch Mutter von zwei Töchtern geworden zu sein.
»Ich war so frei, die Verspätung mit deinem bevorstehenden Umzug zu entschuldigen«, sagte sie spitz und scannte mich dabei von Kopf bis Fuß.
»Du warst beim Friseur«, stellte sie fest. »Der Fransenschnitt sieht gut aus.« Sie ging einen Schritt zurück. «Und diese Jeans mit der Hemdbluse steht dir. Aber jetzt sei so lieb und zieh dich rasch um.«
»Wieso das denn? Und bei wem hast du mich entschuldigt?« Von weiteren Gästen war nicht die Rede gewesen, als sie mich zum Essen herbestellt hatte.
»Unter anderem bei deinem zukünftigen Chef.«
»Wie bitte? Ihr habt den Krause eingeladen?« Das hatte mir gerade noch gefehlt. Und wer war unter anderem?
»Für dich immer noch Doktor Krause«, sagte meine Mutter missbilligend. »Und jetzt geh hinauf und mach dich hübsch, ja!«
Ich unterdrückte einen saftigen Fluch. Am liebsten wäre ich sofort wieder abgehauen, aber dazu war ich zu gut erzogen. Also stieg ich die breiten Stufen in den ersten Stock hinauf und versuchte es dabei mit positivem Denken: »Das wird ein netter Abend. Das wird ein netter Abend. DAS WIRD EIN SCHRECKLICH NETTER ABEND!«
Sehr gut war ich darin noch nie.
Oh Mann, Krause ... Dieser Karrierehengst kannte nur zwei Gesprächsthemen: seine wunderbare Firma für Unternehmensberatung und seine Bekanntschaften mit Wichtigen! Leuten! Oder gar mit Berühmten! Leuten! An solchen Geschichten konnte er sich enorm aufgeilen, und er checkte es nie, dass er seine Zuhörer damit gleichzeitig nervte und zu Tode langweilte.
Meine gute Laune schmolz dahin wie Schokolade in der Sonne. Schon wieder einmal. Warum passierte das in letzter Zeit so oft?
Eigentlich war mein Leben doch in bester Ordnung: Ich hatte mein Examen in der Tasche, eine gut bezahlte Stelle und eine schöne Wohnung in Aussicht und es lagen sieben freie Wochen vor mir. Nur meine Unbeschwertheit war über Nacht verschwunden und ich wusste beim besten Willen nicht warum.
Dabei hatte ich die Erwartungen meiner Eltern an eine strahlende Vorzeigetochter komplett erfüllt.
Die Privatschule, auf die sie mich geschickt hatten, war mir trotz der hohen Anforderungen immer leicht gefallen. Ich ging reiten, spielte Hockey und verkehrte mit den richtigen Freundinnen.
Nach dem Abi hatte ich selbstverständlich BWL studiert, damit ich später in die Firma meiner Eltern einsteigen konnte. Die beiden hatten im Laufe der Jahre eine große Steuerberatungskanzlei aufgebaut und die sollte auf jeden Fall in Familienbesitz bleiben.
Bevor ich aber dort meinen Platz einnahm, sollte ich bei jenem eben erwähnten Dr. Helmut Krause, den meine Eltern seit einer halben Ewigkeit kannten, erste Berufserfahrungen sammeln.
Noch vor Kurzem war ich von diesem Karriereschritt vollkommen überzeugt gewesen, aber in den letzten beiden Semestern war mir bei dem Gedanken zunehmend schlecht geworden. Und ich hatte wieder angefangen zu schreiben. Regelmäßig hatte ich mich von den Prüfungen abgelenkt, indem ich Ideen zu Geschichten und Personen in ein altes Schulheft gekritzelt hatte. Nicht, dass ich glaubte, wirklich schreiben zu können, das ganz bestimmt nicht. Aber das Herumspinnen beruhigte mich, wenn ich angespannt war, und half mir, mit den Ängsten zurechtzukommen, die mich immer wieder überfielen, wenn der Stress zu groß wurde.
Das hatte ich schon als Kind
Weitere Kostenlose Bücher