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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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sah ich, wie Ben mit einem Bleistift die Tage auf dem Kalender markierte. Sonntag, Montag, Dienstag: Dad. Mittwoch, Donnerstag, Freitag: Mum. Samstag - das war der problematische Tag -eine Woche bei Dad, die nächste bei Mum. Wir zerbrachen ihn in zwei Hälften und teilten ihn unter uns auf. Ich sah an seiner gerunzelten Stirn, dass er angestrengt versuchte, herauszubekommen, in welcher Woche wir uns gerade befanden. Ben war fest entschlossen, zu uns beiden fair zu sein. Während die Wut auf Rip in meinem Herzen gerann, wurde ich manchmal von einer Apathie erfasst, die so stark war, dass sie an Schmerz grenzte. An den Tagen, wenn Ben nicht da war, ertrug ich es kaum, allein zu Hause zu sein. Die Stille war wie ein grelles Klingeln, wie Ohrensausen. Wenn ich von einem Zimmer ins andere ging, dröhnten meine Schritte auf dem Laminat. Wenn ich aß, hörte ich, wie das Kratzen von Messer und Gabel auf dem Teller in der Küche widerhallte. Anfangs versuchte ich es damit, das Radio anzustellen oder Musik aufzulegen, aber das machte es noch schlimmer: Ich spürte die Stille, selbst wenn ich sie nicht hörte.
    Wenn die Stille zu viel wurde, machte ich einen Spaziergang, nur um aus dem Haus zu kommen. In bequemen ausgelatschten Turnschuhen und meinem uralten braunen Dufflecoat mit der großen flatternden Kapuze und den Fledermausärmeln wanderte ich durch die Dämmerung und spähte durch erleuchtete Fenster in das Leben anderer Leute, die zu Abend aßen oder auf dem Sofa fernsahen, und versuchte mich zu erinnern, wie es war, wenn man als Familie zusammenhing. Vielleicht hätte ich mich lieber schick machen und nach einem neuen Mann Ausschau halten sollen, doch die Fledermausärmel meines Mantels umfingen mich wie Arme, und sie waren damals mein einziger Trost. Ich glich zwar weniger Batwoman als vielmehr einer derangierten Riesenfledermaus, doch das spielte keine Rolle, weil mir sowieso niemand begegnete, den ich kannte. Außerdem machte mich der Mantel unsichtbar.
     
    Eines Nachmittags ging ich bis nach Islington Green zu Fuß, weil ich vorhatte, ein paar Sachen bei Sainsbury's einzukaufen und dann den Bus zurück zu nehmen. Es war gegen vier, und die Dame mit den Aufklebern platzierte gerade die abendlichen Rabatte. Um sie herum wogte eine Schar von Kunden wie ein Schwärm Piranhas zur Fütterungszeit. Meine Mutter war eine große Verfechterin des Einkaufs abgelaufener Lebensmittel, und ich erinnerte mich mit einem Anflug von Nostalgie, wie sie mich als kleines Mädchen im Supermarkt auf die Jagd nach den leuchtend roten REDUZIERT-Aufklebern geschickt hatte, die wie purpurne Küsse auf den Frischhaltefolien klebten. Sie glaubte nicht an Salmonellen oder Listerien, und selbst eine unangenehme Erfahrung mit betagtem Krebsfleischimitat dämpfte ihre Begeisterung nicht. »Wer den Pfennig nicht ehrt«, sagte sie und tätschelte ihre elastische Mitte. Mama ehrte ihre Pfennige, als kämen sie direkt vom Himmel. Seltsam, dass man noch Jahrzehnte nach dem Auszug aus dem Elternhaus etwas von den Eltern mit sich herumtrug. Doch jetzt, ohne die Gewissheit im Hintergrund, dass Rips Lohn jeden Monat mit einem satten Klingeln auf unserem gemeinsamen Konto landete, verstand ich auf einmal die scharfe Kante der Unsicherheit, die meine Mutter ein Leben lang begleitet haben musste. Oder ich war einfach so deprimiert, dass ich mich mit den ausgetrockneten Pastetchen und den traurigen verschmähten Chickenwings solidarisch fühlte. Jedenfalls schloss ich mich dem Gedränge an.
    Die Aufkleber-Dame arbeitete unendlich langsam und ihre Etiketten blieben ständig in der Maschine hängen. Sobald sie ein Produkt gekennzeichnet hatte, schoss ein Arm aus der Menge und riss es ihr aus der Hand. Die reduzierten Waren erreichten nicht einmal das Regal. Dann fiel mir auf, dass es immer dieselbe Hand zu sein schien, die aus der Menge kam: eine knochige, knotige, mit Klunkern überzogene Hand, die unermüdlich zuschlug. Als ich der Hand mit den Augen folgte, entdeckte ich eine alte Frau, die zwischen den Schultern zweier dicker Damen durchtauchte. Ihr Haar steckte unter einer feschen karierten Schottenmütze mit einer strassbesetzten herzförmigen Brosche, doch ein paar Strähnen schwarzer Locken hatten sich gelöst. Ihre Hand schwirrte hin und her wie ein wild gewordener Greifarm. Es war Mrs. Shapiro. »Hallo!«, rief ich.
    Sie hob den Kopf und starrte mich einen Moment lang an. Dann erkannte sie mich.
    »Georgine!«, rief sie. Sie sprach das G hart aus,

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