Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
wieder gegen die Fesseln stemmte, da ließen sie plötzlich los; er fiel auf den Rücken und rang nach Atem. Das Einhorn stand über ihm, in Schmendricks benommener Sicht war es blutdunkel. Es berührte ihn mit seinem Horn.
Als er aufstehen konnte, machte sich das Einhorn auf den Weg, und der Zauberer folgte ihm, der Eiche wegen sehr behutsam, obschon sie wieder reglos dastand, wie jeder andere Baum, der nie geliebt hatte. Der Himmel war noch schwarz, doch war es jetzt eine wässrige Dunkelheit, auf der Schmendrick die violette Morgendämmerung heranschwimmen sah. Der wärmer werdende Himmel schmolz die harten Silberwolken; Schatten verdämmerten, Geräusche verloren ihre Konturen, und die Formen hatten noch nicht entschieden, was sie an diesem Tage sein wollten. Selbst der Wind sann noch darüber nach.
»Hast du mich gesehen?«, fragte Schmendrick das Einhorn. »Hast du gesehen, was ich getan habe?«
»Ja«, antwortete es, »es war wirkliche Magie.«
Kalt und scharf wie ein Schwert spürte er das Verlorene. »Sie hat mich wieder verlassen«, sagte er. »Ich besaß sie, sie besaß mich, aber jetzt ist sie fort. Ich konnte sie nicht festhalten.« Das Einhorn schwebte ihm lautlos wie eine Feder voran.
In der Nähe sagte eine bekannte Stimme: »Du verlässt uns schon, Zauberer? Es wird den Männern leid tun, dass sie dich nicht mehr getroffen haben!« Er drehte sich um: Molly Grue lehnte an einem Baum, Kleid und Haare gleichermaßen zerzaust, die bloßen Füße besudelt und blutend, grinsend wie eine Fledermaus. »Huch! Maid Marian höchstpersönlich!«, rief sie.
Dann erblickte sie das Einhorn. Sie erstarrte, nur ihre lohbraunen Augen füllten sich mit Tränen. Lange stand sie so da, dann fasste sie mit jeder Hand ein Stück Saum und ging zitternd in die Hocke. Ihre Knöchel waren gekreuzt und ihre Augen gesenkt, dennoch brauchte Schmendrick einen Augenblick, um zu begreifen, dass Molly Grue knickste.
Er brach in Gelächter aus, Molly sprang auf, vom Hals bis zum Haaransatz blutübergossen. »Wo bist du gewesen?«, schrie sie. »Verdammt noch mal, wo bist du nur gewesen?« Sie tat ein paar Schritte auf Schmendrick zu, doch ihr Blick ging an ihm vorbei, zu dem Einhorn hinüber.
Als sie an Schmendrick vorüberwollte, stellte er sich ihr in den Weg. »So spricht man nicht«, fuhr er sie an, immer noch unsicher, ob Molly das Einhorn erkannt hatte. »Weißt du nicht, was sich gehört, Weib? Und Knicksen ist längst aus der Mode!«
Molly stieß ihn zur Seite und ging zu dem Einhorn. Sie schalt es, wie man eine Kuh schilt, die sich verlaufen hat. »Wo bist du nur gewesen?« Vor dem Weiß und dem leuchtenden Horn schrumpfte Molly zu einem keifenden Käfer, aber diesmal senkte das Einhorn seine dunklen alten Augen.
»Ich bin jetzt hier«, sagte es schließlich.
Molly lachte verächtlich. »Was nützt es mir, dass du jetzt da bist? Wo bist du vor zwanzig Jahren gewesen, vor zehn Jahren? Wie kannst du es wagen, jetzt zu mir zu kommen, wenn ich so aussehe?« Mit einer Handbewegung fasste sie ihre Erscheinung zusammen: verwüstetes Gesicht, hoffnungslose Augen, vergilbendes Herz. »Ich wünschte, du wärest nie gekommen, warum kommst du erst jetzt?« Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
Das Einhorn gab keine Antwort, doch Schmendrick sagte: »Es ist das letzte, es ist das letzte Einhorn auf der ganzen Welt!«
Molly schluchzte: »Es muss ja das letzte Einhorn sein, das zu Molly Grue kommt.« Dann hob sie ihre Hand, um sie auf des Einhorns Wange zu legen; beide zuckten ein wenig zurück, und die Hand kam auf der pulsierenden Stelle zwischen Kiefer und Hals zu liegen. Molly sagte: »Schon gut. Ich verzeih dir!«
»Einhörnern kann man nicht verzeihen.« Dem Zauberer ward vor Eifersucht ganz schwach und schwindlig, nicht nur der Berührung, sondern vor allem des Gespinstes wegen, das zwischen Molly und dem Einhorn entstand. »Einhörner sollten immer an Anfängen stehen«, sagte er, »sie gehören dem Reinen, dem Unschuldigen, dem Neuen zu. Einhörner sind für junge Mädchen.«
Molly streichelte des Einhorns Kehle so behutsam, als wäre sie blind. Ihre verschmierten Tränen trocknete sie an der weißen Mähne. »Von Einhörnern verstehst du nicht sehr viel«, sagte sie dann.
Der Himmel färbte sich jadegrau, und die Bäume, die vor einem Augenblick noch auf einem dunklen Grund gemalt gewesen, waren wieder richtige Bäume, knisterten und rauschten im Morgenwind. Schmendrick sah das Einhorn an und sagte kalt: »Wir
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