Das letzte Revier
reibt sich das derbe, stopplige Gesicht, während er mir dabei zusieht, wie ic h Hosenanzüge über eine Stuhllehne lege und noch mehr Kleidung fürs Büro heraussuche. Eins muss man Marino lassen, seitdem ich aus dem Krankenhaus zurück bin, versucht er, gelassen, sogar rücksichtsvoll zu sein. Sich anständig zu benehmen fällt ihm auch unter den günstigsten Umständen schwer, und im Augenblick sind die Umstände, in denen er sich befindet, alles andere als günstig. Er ist erschöpft, übermüdet, hält sich nur noch dank Koffein und Junkfood auf den Beinen, und ich gestatte es nicht, dass er in meinem Haus raucht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis seine Selbstbeherrschung bröckelt und seine ruppigen, großmäuligen Züge die Oberhand gewinnen. Ich werde Zeuge dieser Metamorphose und bin erleichtert. Ich sehne mich verzweifelt nach Vertrautem, gleichgültig, wie unangenehm es sein mag. Marino beginnt über Lucys Verhalten zu reden, als sie gestern Abend ankam und Jean-Baptiste Chandonne und mich in meinem verschneiten Garten vorfand.
»Ich nehme ihr nicht übel, dass sie dem Idioten das Gehirn aus dem Kopf blasen wollte«, kommentiert Marino. »Aber an dieser Stelle müsste eigentlich ihre Ausbildung ins Spiel kommen. Egal, ob es um die Tante geht oder das eigene Kind, man muss tun, was man gelernt hat, und das hat sie nicht. Das hat sie verdammt noch mal nicht getan. Stattdessen ist sie durchgedreht.«
»Ich habe dich auch schon ein paar Mal durchdrehen sehn«, erinnere ich ihn.
»Also, meiner unmaßgeblichen Meinung nach war es ein großer Fehler, sie diese Undercover-Arbeit in Miami machen zu lassen.« Lucy ist dem Büro in Miami zugeteilt und ist wegen der Feiertage in Richmond, unter anderem. »Manchmal kommen die Leute den üblen Typen zu nahe und identifizieren sich mit ihnen. Lucy ist auf einem Killertrip. Sie drückt zu gern auf den Abzug, Doc.«
»Das ist nicht fair.« Ich habe zu viele Schuhe eingepackt.
»Sag mir mal, was du getan hättest, wenn du als Erster bei mir gewesen wärst.« Ich halte inne und schaue ihn an.
»Zumindest hätte ich mir eine Nanosekunde Zeit genommen, um die Lage zu beurteilen, bevor ich dem Arschloch eine Kanone an den Kopf gehalten hätte. Scheiße. Der Kerl war so fertig, er hat nicht mal mehr gesehen, was er eigentlich tat. Er schreit Zeter und Mordio, weil du ihm dieses chemische Zeugs in die Augen geschüttet hast. Er hatte zu diesem Zeitpunkt keine Waffe mehr. Er konnte niemandem mehr was tun. Das war auf den ersten Blick zu sehen. Und genauso offensichtlich war, dass du verletzt warst. Ich an ihrer Stelle hätte einen Krankenwagen gerufen, und daran hat Lucy überhaupt nicht gedacht. Sie ist unberechenbar, Doc. Und nein, ich möchte nicht, dass sie sich hier im Haus aufhält, während die Ermittlungen laufen. Deswegen haben wir sie auf dem Revier befragt, ihre Aussage an einem neutralen Ort aufgenommen, damit sie sich beruhigt.«
»In meinen Augen ist ein Verhörraum kein neutraler Ort«, entgegne ich.
»Das Haus, in dem die eigene Tante beinahe umgebracht worden wäre, ist auch kein neutraler Ort.«
Ich gebe ihm Recht, aber Sarkasmus vergiftet seinen Tonfall. Das geht mir gegen den Strich.
»Trotzdem, wenn ich daran denke, dass sie jetzt allein in einem Hotelzimmer sitzt, habe ich ein schlechtes Gefühl«, fügt er hinzu und reibt sich wieder das Gesicht. Auch wenn er das Gegenteil behauptet, ich weiß, dass er große Stücke auf meine Nichte hält und alles für sie tun würde. Er kennt sie seit ihrem zehnten Lebensjahr und hat sie mit Autos, großen Motoren, Waffen und allen möglichen anderen so genannten männlichen Interessen bekannt gemacht, für die er sie jetzt kritisiert.
»Ich glaube, ich werde nach der Göre sehen, nachdem ich dich bei Anna abgesetzt habe. Nicht, dass sich jemand für meine unguten Gefühle interessieren würde«, springt er ein paa r Gedanken zurück. »Dieser Jay Talley zum Beispiel. Geht mich natürlich nichts an. Dieser egozentrische Mistkerl.«
»Er hat die ganze Zeit im Krankenhaus auf mich gewartet«, verteidige ich Jay wieder einmal. Marino ist maßlos eifersüchtig. Jay ist der ATF-Verbindungsmann zu Interpol. Ich kenne ihn nicht sehr gut, habe aber vor vier Tagen in Paris mit ihm geschlafen. »Und ich war immerhin dreizehn oder vierzehn Stunden dort«, fahre ich fort, während Marino die Augen verdreht. »Ich nenne das nicht egozentrisch.«
»Herrgott noch mal!«, sagt Marino. »Wer hat dir denn dieses Märchen
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