Das Letzte Ritual
Tryggvi hatte keine Zeit, diesen Gedanken zu Ende zu denken, denn es ertönte ein lauter Knall, wie wenn etwas zu Boden stürzt oder zerbricht. Tryggvi beschleunigte seinen Schritt und betrat den Flur. Der Lärm schien aus der oberen Etage zu kommen. Tryggvi wendete sich schnell zur Treppe und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Die Frauen folgten ihm und begannen zu jammern.
Die Schreie kamen zweifellos aus den Büros der Historischen Fakultät. Tryggvi spurtete los und die Frauen folgten ihm auf den Fersen. Er riss die Feuerschutztür zum Büroflur auf und bremste abrupt – woraufhin die Frauen eine nach der anderen gegen ihn prallten. Tryggvi starrte geradeaus.
Es war nicht der Anblick des Bücherregals auf dem Fußboden oder des Fakultätsleiters auf allen vieren auf dem Bücherhaufen im Flur, der Tryggvi erstarren ließ. Dort drinnen lag eine Leiche, die halb aus einem kleinen Druckerkabuff hinausragte. Tryggvi spürte, wie sich sein Magen umdrehte. Was zum Teufel waren diese Stofflappen vor den Augen? Hatte jemand etwas auf die Brust gezeichnet? Und die Zunge – was war nur mit der Zunge?
Die Frauen blickten über Tryggvis Schulter und er spürte, wie sie nach seinem Hemd griffen. Er versuchte, sich loszumachen, aber ohne Erfolg. Der Fakultätsleiter streckte Hilfe suchend die Arme aus. Der Mann schien vor Angst völlig aufgelöst zu sein und griff mit der einen Hand nach seinem Herz, aschfahl im Gesicht. Dann kippte er zur Seite. Tryggvi widerstand der Versuchung, die Frauen zu packen und wegzurennen. Er machte einen Schritt nach vorn, woraufhin die Frauen noch nachdrücklicher versuchten, ihn zurückzuziehen, doch er schüttelte sie ab. Er beugte sich hinab zu Gunnar, der offenbar versuchte, ihm etwas zu sagen.
Tryggvi verstand nicht viel von dem zusammenhanglosen Gestammel des Mannes. Er begriff nur, dass die Leiche – es konnte nur eine Leiche sein, so sah kein lebendiger Mensch aus – auf Gunnar gestürzt war, als dieser die Tür zum Druckerkabuff geöffnet hatte. Tryggvi richtete seinen Blick instinktiv auf den entsetzlich zugerichteten Körper.
Guter Gott. Die schwarzen Stofflappen vor den Augen waren gar keine Stofflappen.
6. DEZEMBER 2005
1. KAPITEL
Dóra Guðmundsdóttir wischte hastig einen Cornflakeskrümel von ihrem Hosenbein und zupfte ihre Kleidung zurecht, bevor sie die Rechtsanwaltskanzlei betrat. Gar nicht so übel. Sie hatte das morgendliche Geduldspiel, ihre sechsjährige Tochter und ihren 16-jährigen Sohn rechtzeitig zur Schule zu bringen, überstanden. Neuerdings weigerte sich Dóras Tochter strikt, etwas Rosafarbenes anzuziehen, was nicht weiter problematisch wäre, wenn nicht der gesamte Inhalt ihres Kleiderschranks mehr oder weniger rosa wäre. Ihr Sohn hingegen hatte das ganze Jahr über vergnügt dieselben verschlissenen Klamotten angezogen, vorausgesetzt, auf einem der Kleidungsstücke befand sich ein Totenkopf. Seine Heldentat bestand darin, überhaupt aufzuwachen. Dóra seufzte bei dem Gedanken. Es war nicht leicht, allein mit zwei Kindern zu leben. Aber es war auch nicht leichter gewesen, als sie noch verheiratet gewesen war. Der Unterschied war der, dass zur morgendlichen Routine noch der Streit mit ihrem Ex-Mann hinzugekommen war. Die Gewissheit, dass dies Vergangenheit war, hob ihre Stimmung, und ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie die Tür öffnete.
»Guten Morgen!«, sagte sie gut gelaunt.
Die Sekretärin entgegnete ihren Gruß nicht, sondern setzte eine beleidigte Miene auf. Immer diese ansteckende Fröhlichkeit, dachte Dóra. Insgeheim verfluchte sie, wie so oft, das Sekretärinnenproblem. Es war für die Kanzlei zweifellos geschäftsschädigend. Dóra konnte sich an keinen Mandanten erinnern, der sich nicht schon einmal über das Mädchen beschwert hatte. Sie war nicht nur unfreundlich, sondern auch ausgesprochen unattraktiv. Ihr Übergewicht war nicht das Schlimmste, sondern die allgemeine Nachlässigkeit bei ihrem Äußeren. Außerdem regte sie sich über alles und jeden auf. Zu allem Überfluss – wie aus purer Gemeinheit – hatten die Eltern das Mädchen Bella genannt. Wenn sie doch nur von sich aus kündigen würde. Sie schien keineswegs mit dem Job zufrieden zu sein und war hier bestimmt nicht am richtigen Platz. Eigentlich konnte sich Dóra gar keinen Job vorstellen, der dem Mädchen liegen würde. Andererseits war es nicht möglich, sie zu feuern.
Als Dóra und Bragi, ihr älterer und erfahrenerer Kollege, sich
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