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Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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fragte Dóra.
    »Es war keine Beziehung. Ich konnte ihn nicht anschauen und seine Anwesenheit nicht ertragen. Ich ging ihm einfach aus dem Weg. Sein Vater auch. Harald tat sich am Anfang schwer damit, er verstand nicht, warum seine Mama ihn nicht länger bei sich haben wollte. Dann gewöhnte er sich daran.« Sie hatte aufgehört zu weinen und ihr Gesicht hatte sich verhärtet. »Ich hätte ihm natürlich verzeihen müssen – aber ich konnte es einfach nicht. Vielleicht hätte ich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen sollen, vielleicht wäre dann alles anders gekommen und Harald hätte sich anders entwickelt.«
    »Wie war er denn?«, fragte Dóra und dachte an die Worte seiner Schwester. »Elisa sprach nur lobend von ihm.«
    »Er war auf der Suche«, sagte die Frau. »So kann man es beschreiben. Er versuchte immer, die Zuneigung seines Vaters zu bekommen – was ihm nie gelang. Bei mir hat er viel früher aufgegeben. Zum Glück war ihm sein Großvater wohlgesinnt. Aber als er starb, verlor Harald den Boden unter den Füßen. Er studierte zu der Zeit in Berlin und begann mit Drogen zu experimentieren. Er spielte mit dem Tod. Einer seiner Freunde starb dabei. Dadurch sind wir dahintergekommen.«
    »Haben Sie nicht versucht, irgendwie Zugang zu ihm zu finden?«, fragte Dóra, obwohl sie die Antwort schon wusste.
    »Nein«, entgegnete die Frau kurz angebunden. »Harald hatte ein übersteigertes Interesse an allem entwickelt, was mit Hexerei zu tun hat, wie sein Großvater. Als Amelia starb, ging er zur Bundeswehr. Wir haben nicht versucht, ihn aufzuhalten. Diese Entscheidung stellte sich als fataler Fehler heraus – ich möchte nicht darüber sprechen, aber er musste schon nach einem Jahr seinen Dienst quittieren. Er hatte genug Geld von seinem Großvater geerbt und wir sahen ihn damals nicht oft. Als er beschloss, hierher zu gehen, nahm er Kontakt zu uns auf. Er rief an, um es uns mitzuteilen.«
    Dóra schaute die Frau nachdenklich an. »Wenn Sie Verständnis suchen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Aber ich habe Mitleid mit Ihnen. Ich weiß nicht, wie ich mich selbst verhalten hätte – vielleicht genauso. Ich hoffe nicht.«
    »Ich wäre so gern in der Lage gewesen, meine Beziehung zu Harald noch einmal ganz neu aufzubauen. Aber jetzt ist es zu spät und ich muss damit leben.«
    »Sie dürfen nicht glauben, dass es mir Spaß macht, Sie noch mehr zu verletzten, aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass Ihr Verhalten auch Einfluss auf andere hat. Ein junger Mann sitzt im Gefängnis, ein Medizinstudent und Freund von Harald. Ihn hat die Bekanntschaft mit Harald ins Unglück gestürzt.«
    Die Frau schaute aus dem Fenster. »Was wird aus ihm?«
    Dóra zuckte die Achseln. »Er wird voraussichtlich verurteilt, weil er den Fund der Leiche nicht angezeigt hat – und wegen Leichenschändung. Dafür wird er eine Weile ins Gefängnis müssen. Er wird sein Medizinstudium bestimmt nicht wieder aufnehmen können. Ich glaube, dass er die anderen aus der Clique deckt – wer weiß. Und ich vermute, dass Harald ihn in seinem Testament berücksichtigt hat. Das ist immerhin ein kleiner Trost.«
    »War er Ihrer Meinung nach ein guter Freund von Harald?«, fragte die Frau und schaute Dóra an.
    »Ja, ich glaube schon. Er hat zumindest sein Versprechen eingelöst – wie abstoßend das auch gewesen sein mag. Ihr Sohn hat sich seine Freunde nicht nach den üblichen Normen ausgesucht.«
    »Ich kümmere mich um ihn«, sagte die Frau leise. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Er kann im Ausland Medizin studieren.« Sie spreizte die Finger und ballte ihre Hände zu Fäusten, als habe sie Gelenkschmerzen. »Es geht mir besser, wenn ich etwas tun kann. Die Depressionen sind dann nicht mehr so schlimm.«
    »Matthias kann sich darum kümmern, falls Sie es ernst meinen.« Dóra wollte aufstehen. »Ist sonst noch was?«, sagte sie und hoffte, es wäre nicht so. Sie hatte genug.
    Amelia nahm ihre Handtasche von der Stuhllehne, stand auf und knöpfte ihren Mantel zu. Dann reichte sie Dóra die Hand.
    »Ich danke Ihnen«, sagte sie ehrlich. »Bitte schicken Sie uns die Rechnung – sie wird umgehend bezahlt.« Sie verabschiedeten sich und Dóra ging mit schnellen Schritten in Richtung Ausgang. Sie konnte es kaum erwarten, an die frische Luft zu kommen.
    Auf dem Weg zum Ausgang passierte sie den Saal mit dem großen Islandmodell. Sie schaute hinunter zu Matthias und Elisa, die in aller Ruhe um die Reliefkarte wanderten. Matthias blickte

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