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Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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Selbstbewusstsein. Dóra war froh, ihrer Mutter zu ähneln und nicht ihrem Vater, der einmal als Doppelgänger von Winston Churchill posiert hatte. Man konnte zwar nicht behaupten, sie sei wunderschön oder attraktiv, aber mit ihren hohen Wangenknochen und ihren blauen, mandelförmigen Augen konnte man sie zweifellos als hübsch bezeichnen. Sie hatte außerdem das Glück gehabt, die Figur ihrer Mutter zu erben und schlank zu bleiben.
    Dóra rief ihren Kollegen einen Abschiedsgruß zu und Bragi entgegnete »viel Glück«. Sie hatte ihm von ihrem Telefonat mit Frau Guntlieb und dem bevorstehenden Treffen mit deren Bevollmächtigtem erzählt. Bragi hatte die ganze Geschichte äußerst spannend gefunden und behauptet, die Tatsache, dass eine Mandantin aus dem Ausland sie kontaktiere, sei ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg seien. Er hatte sogar vorgeschlagen, den schlichten Namen der Kanzlei mit einem International oder Group aufzupeppen. Dóra hoffte, dass Bragi nur einen Witz gemacht hätte, war sich jedoch nicht sicher.
    Draußen wehte ein frischer Wind. Im November war es ungewöhnlich kalt gewesen, was auf einen langen, harten Winter hindeutete. Jetzt würden sie für den extrem warmen Sommer bezahlen müssen. Dóra zog sich ihre Kapuze tief ins Gesicht, damit sie nicht mit abgefrorenen Ohren zu ihrer Verabredung käme. Das Hótel Borg lag nicht weit entfernt und es lohnte sich nicht, mit dem Werkstattauto dorthin zu fahren. Wer weiß, was der Deutsche von ihr denken würde, wenn er sah, wie sie die Rostlaube vor dem Hótel parkte. Dann würden ihre schicken Schuhe auch nichts mehr retten können, das war klar.
    Es dauerte keine sechs Minuten, bis sie von der Kanzlei an der Drehtür des Hotels angekommen war.
    Dóra ließ ihren Blick durch den schönen Speisesaal schweifen. Sie stellte fest, dass es hier kaum noch so aussah wie in den Jahren, als sie die meisten Samstagabende wild feiernd mit ihrer Clique im Borg verbracht hatte – bis auf die großen Fenster, die den Blick auf das Parlamentsgebäude und den Austurvöllur freigaben. Damals hatte sie sich über gar nichts Gedanken gemacht, höchstens darüber, wie ihr Hintern im Outfit des jeweiligen Abends zur Geltung käme.
    Der Deutsche schien um die vierzig zu sein. Er saß kerzengerade auf einem gepolsterten Stuhl und seine breiten Schultern verdeckten die schmucke Rückenlehne. Er war leicht ergraut, was ihm eine gewisse Würde verlieh. Er wirkte steif und förmlich und trug einen grauen Anzug und eine ebensolche Krawatte, was die Farbpalette nicht gerade bereicherte. Dóra versuchte, freundlich und aufmerksam zu lächeln, und hoffte, nicht vollkommen idiotisch dabei auszusehen. Der Mann erhob sich, nahm die Serviette vom Schoß und legte sie auf den Tisch.
    »Frau Guðmundsdóttir.« Eine harte, kalte Aussprache.
    Sie gaben sich die Hände. »Herr Reich«, raunte Dóra mit so guter deutscher Aussprache wie möglich. »Nennen Sie mich bitte Dóra«, fügte sie hinzu. »Das kann man leichter aussprechen.«
    »Nehmen Sie Platz«, sagte der Mann und setzte sich. »Und nennen Sie mich Matthias.«
    Sie achtete darauf, gerade zu sitzen, und dachte darüber nach, was die anderen Gäste wohl von diesem stocksteifen Duett halten mochten. Vielleicht glaubten sie, es handele sich um das Gründungstreffen des Vereins für Menschen mit Stahlschienen in der Wirbelsäule.
    »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte der Mann Dóra höflich auf Deutsch. Der Kellner verstand offenbar, was er gesagt hatte, denn er wendete sich zu Dóra und wartete auf die Bestellung.
    »Ein Wasser bitte. Mineralwasser.« Sie erinnerte sich daran, wie verrückt die Deutschen auf Mineralwasser waren. Allerdings wurde es auch in Island immer beliebter – vor zehn Jahren wäre niemand mit gesundem Menschenverstand auf die Idee gekommen, in einem Restaurant für ein Glas Wasser zu bezahlen. Es floss ja schließlich unablässig aus dem Wasserhahn. »Ich nehme an, Sie haben mit meinen Arbeitgebern gesprochen, oder besser gesagt mit Frau Guntlieb?«, fragte Matthias Reich, als der Kellner gegangen war.
    »Ja. Sie hat mir gesagt, Sie würden mir nähere Informationen geben.«
    Er zögerte und leerte sein mit einer klaren Flüssigkeit gefülltes Glas. Die Luftbläschen gaben zu erkennen, dass er ebenfalls Mineralwasser bestellt hatte. »Ich habe eine Mappe mit Material für Sie zusammengestellt. Die können Sie mitnehmen und später durchsehen, aber es gibt noch ein

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