Das letzte Zeichen (German Edition)
Deshalb waren sie da. Deshalb gab es die Stadt.
Die Schreckenszeit machte den Menschen klar, wie anfällig und gefährlich sie selbst waren. Die Schreckenszeit machte ihnen klar, dass der Große Anführer die ganze Zeit recht gehabt hatte.
Hier in der Stadt war das alles so sonnenklar. Und es war eigenartig, dass, bevor es die Stadt gab, nur der Große Anführer erkannt haben sollte, wie die Gebrechen der Welt zu heilen waren, und noch eigenartiger war es, dass die Menschheit nicht in Jubel ausbrach und ihn sofort bei der Umsetzung unterstützte, als er seine Erkenntnisse mitteilte. Aber das war eben das Problem mit den Menschen, sagte der Bruder immer. Sie hatten Schwächen, Fehler. Sie erkannten die Wahrheit nicht. Sie rannten erst einmal davon vor allem Neuen und Revolutionären, bis sie erkannten, dass es keine Alternative gab. So waren sie auch vor dem Großen Anführer davongerannt, hatten ihm nicht zuhören wollen und ihm glatt verwehrt, seine Theorie zu erproben und nachzuweisen, wie wirksam sie war.
Aber das war noch vor der Schreckenszeit gewesen, als die Menschheit dem puren Bösen ins Gesicht gestarrt hatte und die Folgen hatte tragen müssen. Das war, bevor die Alternativen ausgegangen waren und die Menschen erkannten, dass es eine Revolution brauchte.
Ein paar erleuchtete Seelen begannen damals, dem Großen Anführer zuzuhören, und eine kleine Schar erkannte, dass er recht hatte. Also baute er die Stadt, um sie zu schützen, und seither war niemand mehr traurig, böse, gefährlich oder grausam. Er schaffte es, dass das Böse einfach nicht mehr existierte. Jedenfalls nicht innerhalb der Stadtmauern.
Vor der Schreckenszeit war der Große Anführer Professor an der Universität gewesen, hatte Menschen unterrichtet und Forschung betrieben. Und als Chirurg war ihm bei einer Operation eine Idee gekommen, die – wie alle guten Ideen – zunächst einmal auf völlige Ablehnung gestoßen war. Man sagte ihm, es funktioniere nicht, es sei nicht möglich und dass er verrückt sei. Also gab er die Arbeit als Hirnchirurg auf und widmete sich ganz der Forschung, um die Wirksamkeit und Machbarkeit seines Verfahrens nachzuweisen. Außerdem gab er sein Wissen an seine Studenten weiter, die ihm bei der Ausarbeitung und der Verbreitung halfen.
Doch noch immer wollte keiner ihn ernst nehmen. Jedes Mal wenn er etwas veröffentlichen wollte, sagte man ihm, er sei verblendet und die Theorie sei gefährlich. Sie entzogen ihm sogar die ärztliche Zulassung. Das zeige doch nur, meinte der Bruder immer und schüttelte dabei ungläubig den Kopf, wie irregeleitet die Menschen damals waren. Denn sie selbst waren es, die gefährlich waren. Sie waren es, die die ganze Welt in den Untergang trieben.
In der Stadt jedoch konnte der Große Anführer endlich beweisen, dass er recht hatte. Damals, als die Stadt gegründet worden war, war jeder willkommen – jeder, der den öden Wüsten entrinnen wollte, die die Schreckenszeit hinterlassen hatte, der etwas zu essen, Wasser, ein Obdach und einen Neubeginn wollte. Er brauchte sich nur der Neutaufe zu unterziehen, bei der die Amygdala entfernt wurde. Jeder, der in der Stadt lebte, erhielt die Neutaufe. Bei Babys geschah das gleich nach der Geburt. Neuankömmlinge erhielten die Neutaufe nach ihrer Ankunft. Das war Teil der Vereinbarung; ohne Neutaufe konnte man nicht in der Stadt leben. Jeder hatte dieselbe kleine, beruhigende Narbe an der rechten Stirnseite, die allen zeigte, dass sie in Sicherheit waren. Denn war die Amygdala erst einmal weg, dann waren die Menschen rein und frei von allem Bösen. Und solange sie dem Bösen entschlossen den Zugang zu ihren Köpfen verwehrten, blieben sie gute Menschen.
Seither hielten die Stadtmauern das Böse draußen und das Gute drinnen. Aber das Gute musste gepflegt werden, und deshalb überwachte das System jeden in der Stadt sehr gründlich – insbesondere die Ds, denn manchmal genügte die Neutaufe nicht. Manchmal bildete sich die Amygdala neu. Wenn das passierte, dann war eine weitere Neutaufe nötig. Dann wurde man allerdings von seinen Freunden und von der Familie getrennt, da man nicht vertrauenswürdig war und für sie und für sich selbst zu einer Gefahr werden konnte.
Wenn die Amygdala nachwuchs, bekam man ein anderes Abzeichen als die anderen: ein K. Das Rangabzeichen war blutrot und es stand für Gefahr. Dieser Rang wurde allerdings nie erwähnt; Ks sah man nie auf der Straße, denn mit der Herabstufung wurden sie sofort zur
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