Affaere in Washington
1. K APITEL
Shelby wusste, dass Washington eine verrückte Stadt war. Doch gerade deshalb lebte sie dort so gern. Man konnte hier Eleganz finden und Tradition, aber auch einen exzentrischen Club aufsuchen oder ein Kabarett mit witzig-frechen Darbietungen.
Durchstreifte man die Stadt von einer Seite zur anderen, stieß man auf viel Gegensätzliches. Schimmernd weiße Monumente und imponierende Regierungsgebäude standen neben modernsten Stahl- und Glaskästen, dazwischen versteckten sich alte Backsteinhäuser. Würdige Statuen, schon vor so vielen Jahren oxidiert, dass sie sich selbst nicht mehr daran erinnern konnten, wann sie grün geworden waren. Straßen mit holprigem Kopfsteinpflaster führten zum Watergate.
Aber die City hatte sich nicht planlos zu diesem Durcheinander entwickelt, das Herz von allem war das Capitol. Und um Politik drehte sich der Reigen.
Washington brodelte wie kochendes Wasser, aber es war ganz anders als das unpersönliche New York. Hier ging man freundlicher miteinander um. Man war in der Regel höflich, rücksichtsvoll und oft sogar liebenswürdig.
Für die meisten Männer und Frauen, die in Washington ihrer Arbeit nachgingen, hatten die Jobs nur von einer Präsidentschaftswahl bis zur nächsten Gültigkeit. Man war hier also nicht gerade von Sicherheit umhüllt.
Aber genau diese Art Leben entsprach Shelbys Geschmack. Für sie war jede Garantie gleichbedeutend mit monotoner Selbstzufriedenheit, und sie hatte es zu ihrem obersten Grundsatz gemacht, dass Langeweile in ihrem Leben keinen Platz haben sollte.
Im Stadtteil Georgetown fühlte sie sich rundum wohl. Georgetown war nicht das Zentrum von Washington, aber hier dominierte die Universität. Jugendliche Unbekümmertheit drückte sich in den Schaufenstern der Boutiquen aus, zeigte sich an Sonnentagen auf den Gehsteigen vor den Cafeterias. Das Bier kostete mittwochabends nur den halben Preis. Hübsche kleine Häuser schmückten sich mit bunten Fensterläden, und ehrbare Damen führten wohlerzogene Hunde an der Leine spazieren.
Man tolerierte einander, das gefiel Shelby.
Ihr Laden lag in einer der engen älteren Gassen, im zweiten Stockwerk befand sich ihre kleine Wohnung. Dort war sogar ein Balkon, von dem aus sie in warmen Sommernächten das Leben und Treiben in der Stadt beobachten konnte. Alle Fenster ließen sich vor neugierigen Blicken mit Bambusrollos abschirmen, doch davon machte sie höchst selten Gebrauch.
Shelby Campbell war kein Eigenbrötler. Sie liebte Unterhaltung, Publikum und Bewegung. Lärm sagte ihr mehr zu als Stille, und mit Fremden redete sie genauso gern wie mit alten Freunden. Da sie jedoch selbst über sich bestimmen und ihrem eigenen Geschmack und Rhythmus gemäß leben wollte, hatte sie als Hausgenossen nicht Menschen, sondern Tiere gewählt.
Der einäugige Kater hieß Moische und der Papagei Tante Emma, der sich standhaft weigerte, mit irgendjemandem ein Wörtchen zu sprechen. Friedlich lebten die drei in dem genialen Durcheinander zusammen, das Shelby als ihr Heim bezeichnete.
Von Beruf Töpferin, war Shelby gleichzeitig eine gute Geschäftsfrau. Der kleine Laden, den sie vor drei Jahren unter dem Namen »Calliope« eröffnet hatte und wo sie ihre Erzeugnisse verkaufte, lief ausgezeichnet. Der Umgang mit den Kunden machte ihr genauso viel Freude wie die Arbeit an ihrem Töpferrad, wo sie aus einem Klumpen Ton mit viel Fantasie die hübschesten Dinge zu zaubern verstand. Der Papierkram, den sie als Inhaberin des Geschäfts erledigen musste, war ihr zwar ein ständiger Dorn im Auge, aber solche kleinen Unannehmlichkeiten machten für Shelby eigentlich erst den wahren Reiz des Lebens aus. So war »Calliope« zum Vergnügen ihrer Familie und dem Erstaunen vieler Bekannten unbestreitbar ein Erfolg geworden.
Um sechs Uhr pünktlich begann der Feierabend. Von Anfang hatte es sich Shelby zur Regel gemacht, ihre Freizeit nicht zu opfern. Natürlich kam es vor, dass sie bis in die frühen Morgenstunden an einem besonderen Stück arbeitete, Glasuren mischte und den Brennofen in Gang hielt. Aber in solchem Falle war die Künstlerin am Werk, die clevere Geschäftsfrau hielt überhaupt nichts von Überstunden.
Am heutigen Abend jedoch musste sie wohl oder übel etwas tun, das sie gern vermieden hätte: einer Verpflichtung nachkommen. Sie löschte das Licht und kletterte die Treppe hinauf zur zweiten Etage. Der Kater erwachte, als seine Herrin erschien. Er streckte sich und sprang vom Fensterbrett herunter. Wenn
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