Das letzte Zeichen (German Edition)
Neukonditionierung ins Krankenhaus gebracht. Sie kamen auch nicht zurück. Sie waren zu gefährlich, um in einer normalen Gesellschaft zu leben, denn wenn das Böse ein Mal zurückkam, dann würde es immer wieder kommen. Deshalb mussten sie genauer überwacht werden, sie mussten vor sich selbst geschützt und von den guten Stadtbewohnern ferngehalten werden. Keiner wusste, wo die Ks hinkamen; niemand durfte das wissen. Ks waren gefährlich, und auch alle um sie herum wurden mit Argwohn behandelt, denn das Böse könnte sich ausgebreitet haben.
Deshalb mochte niemand Raffy.
Sein Vater war ein K gewesen und von der Familie weggeholt worden, als Evie vier Jahre alt war. Sie erinnerte sich daran, wie man ihn aus dem Haus gebracht hatte – es war an ihrem Schulweg gelegen. Raffy war bei ihr gewesen, als es geschah. Damals, als kleine Kinder, die zusammen zur Schule gingen, hatten sie noch Freunde sein dürfen. Auch sein älterer Bruder war dabei gewesen, und sie hatten die neuen Wörter aufgesagt, die sie im Unterricht gelernt hatten. Lucas hatte zuerst gesehen, dass ein Polizeigardist auf ihre Haustür zuging. Der Vater wollte weglaufen, wurde aber festgehalten und die Hände wurden ihm auf dem Rücken gefesselt. Raffy wollte ihm nachrennen, aber Lucas hatte ihn zurückgehalten. So hatte Evie einfach mitangesehen, wie der Vater der Jungen abgeführt worden war und die Mutter der beiden mit Büchern, Kleidungsstücken und anderen Dingen aus dem Haus rannte, alles im Vorgarten auf einen Haufen warf und ihn anzündete. »Als Reinigung«, hatte Evies Mutter später erklärt und dabei müde den Kopf geschüttelt. »Die arme Frau. Da siehst du mal – man kann nie sicher sein.«
Lucas fand sich mit der Tatsache ab, dass sein Vater zur Neukonditionierung eingewiesen worden war. Es wirkte bei ihm als Katalysator für seine Selbstverbesserung. Schon zuvor war er eher nüchtern und vernünftig gewesen, aber von diesem Tag an war er ein mustergültiger Bürger. Er arbeitete hart, machte sich bei den Lehrern beliebt, indem er die schwächeren Mitglieder herausstrich und zeigte, dass er aus ganz anderem Holz geschnitzt war als sein Vater. »Ganz die Mutter«, sagten die Leute bald. »Was für eine Schande, das mit seinem Bruder.«
Raffy konnte sich nicht abfinden mit dem Verlust des Vaters. Er wurde aufmüpfig und handelte sich damit immer wieder Strafen ein. Schließlich verfiel er in Schweigen, starrte die Lehrer, ja sogar den Bruder, nur wütend an, wenn sie mit ihm reden wollten. Evie versuchte, ihm zu helfen, versuchte, die Freundschaft zu erhalten, aber ihre Eltern sorgten dafür, dass sie am anderen Ende des Klassenzimmers saß, und ließen durchblicken, dass sie sich andere Freunde suchen musste. Gute Freunde. Bessere Freunde.
Freunde wie Lucas. Und schon bald wurde sie sowieso von den Jungen getrennt und da konnten sie nicht mehr länger befreundet sein.
Die ersten Sonnenstrahlen schoben sich durch das Fenster herein und sagten Evie, dass sie aufstehen und sich für die Arbeit fertig machen musste. Unwillig schlug sie die Decke zurück und schwang die Füße aus dem Bett, genauso wie immer. Doch heute fühlte sie sich müder als sonst, und sie nahm an, dass das nicht nur an ihrem mitternächtlichen Ausflug lag. Es war Schuld. Schuld und Angst.
Die Sache mit Raffy … Es hatte zunächst nicht so schrecklich angefangen. Aber so war das mit dem Bösen; immer wieder erklärte der Bruder ihnen, dass es sich als etwas anderes verkleidete, als etwas Unschuldiges und Makelloses. So lockte es einen an und versklavte einen. Evie hatte bei den Unterweisungen immer andächtig zugehört und dabei die ganze Zeit über gewusst, dass es bereits zu spät war, dass sie dem Bösen verfallen war.
Damals, in der Kinderzeit, war es wirklich ganz unschuldig gewesen; jeden Nachmittag hatte man sie nach der Schule zur Lichtung gebracht, wo sie herumrennen und sich austoben konnten. Damals hatten sie den Baum für sich entdeckt, waren in unbeobachteten Momenten hineingeschlüpft und hatten einander erzählt, was sie von ihren Eltern und den Lehrern über die Vergangenheit gehört hatten: über die Schreckenszeit, über Flugmaschinen und über eine riesige Welt voller Menschen. Sie erzählten einander alles, was sie sonst niemandem erzählen konnten, hörten einander zu und verstanden einander. Dann aber wurden sie acht Jahre alt, kamen in die nächste Schule und durften einander nicht mehr sehen – aber sie versprachen einander, sich bei
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