Das letzte Zeichen (German Edition)
nicht.«
»Weil ich weiß, dass du lügst.« Raffy rührte sich nicht vom Fleck. »Erzähl mir etwas anderes. Etwas, das stimmt.«
Linus schien darüber nachzudenken. Dann zuckte er die Schultern. »Du hast mich gefragt, warum wir euch beide nicht getötet haben.«
»Und? Warum nicht?«
»Weil das gar nicht nötig ist«, antwortete Linus und ging an Raffy vorbei, »denn wenn ihr so weitermacht, dann bringt ihr euch schon selber um.« Er hielt inne, kam zurück und blieb ganz dicht vor Raffy stehen. »Ihr seid jetzt nicht in der Stadt.« Dann fügte er mit leiser, aber kraftvoller Stimme hinzu: »Die Regeln sind zwar anders, aber es gibt sie immer noch. Und hier draußen gelten unsere Regeln. Zu unserem Schutz. Denkt einmal darüber nach. Ihr werdet herausfinden, was ihr wissen müsst, wenn ihr es wissen müsst und wenn ich es euch erzählen will. Bis dahin genießt unsere Gastfreundschaft, esst gut und ruht euch aus. In einer Stunde brechen wir auf. Ihr werdet wieder Kopfschmerzen bekommen. Martha dort hat Schmerzmittel für euch. Wenn ihr genügend Flüssigkeit zu euch nehmt, dann erholt ihr euch schneller. Wenn ihr tut, was man euch sagt, bekommt ihr alles, was ihr braucht. Das gilt auch für deine Freundin. Sie folgt deinem Beispiel, also denk auch daran, mein Freund. Denk über alles nach. Wir sehen uns später.«
Er ging durch die Gebäudefassade hinaus und ließ sie schweigend zurück.
Raffy nahm wieder seinen Teller, aß und ermunterte Evie, es ihm gleichzutun. Zögernd folgte sie seinem Beispiel.
»Ich bin froh, dass ihr esst«, sagte Martha mit einem rätselhaften Lächeln. Ihre Stimme war sanft und melodisch, anders als Linus’ schroffer Tonfall. »Es muss schwer sein, hier zu sein. Wir alle haben es am Anfang schwer gefunden. Aber Linus ist ein guter Mensch und er will nur unser Bestes.« Sie stand auf und zog sich in ein Zelt zurück. Auch die anderen verschwanden einer nach dem anderen, bis nur noch Evie und Raffy im Gras saßen.
»Unser Bestes«, flüsterte Raffy höhnisch. »Ich glaub ihnen kein Wort. Mit diesem Ort stimmt etwas nicht. Und mit Linus. Und wir werden nicht so lange hier herumsitzen, bis wir es herausfinden.«
Evies Augen weiteten sich. »Nicht?«, flüsterte sie zurück.
»Wir hauen heute Nacht ab«, sagte Raffy, und seine Augen glänzten. »Linus ist ein Lügner, sie alle sind Lügner. Sie wollen irgendetwas von uns, aber sie werden es nicht bekommen. Tu so, als wenn alles in Ordnung wäre. Dann, wenn ich das Zeichen gebe, rennen wir los. Okay? Aber iss jetzt erst einmal. Wer weiß, wann wir wieder etwas zu essen bekommen.«
Evie nickte. Sie aßen so viel sie konnten. Dann legte Raffy sich hin und Evie schmiegte den Kopf an seine Schulter. Bei dem regelmäßigen Geräusch seines Atems kam auch sie langsam zur Ruhe und schlief schließlich ein.
»Ich verstehe«, sagte der Bruder und blickte den Chef der Polizeigarde an, einen untersetzten, aufrechten Mann, der seinen Schlagstock voller Stolz trug. Keine Pistolen für seine Polizeigarde, keine Waffen des Bösen. Manchmal fand der Bruder seine eigenen Regeln frustrierend und restriktiv. Er sehnte sich nach Menschen, die die Welt so sahen, wie sie wirklich war, die erkannten, was getan werden musste, aber die trotzdem die Wahrheit sahen. Der alte Mann im Pförtnerhäuschen mit seinem Gewehr und seinem Hund wusste, wie die Welt wirklich war, aber er war auch Alkoholiker, ein Nichtsnutz, der alles tat, was man von ihm verlangte, für eine wöchentliche Lieferung des Begrüßungstrunks, einem süßen vergorenen Wein, der das spirituelle Erleben steigerte. Ein Gefährte war der Wächter ganz bestimmt nicht. »Und es gibt keine Spur von ihnen?«
»Keine Spur, Bruder«, antwortete der Polizeichef mit gesenktem Kopf. »Wir haben alles abgesucht. Bis zum Einbruch der Dunkelheit.«
»Nun gut«, sagte der Bruder. »Danke.«
Er wartete, bis der Mann gegangen war, und legte dann den Kopf in den Nacken. Es war ein entsetzlicher Tag gewesen, angefangen mit der Nachricht, dass der Junge entkommen war. Dann hatte sich herausgestellt, dass das Mädchen ihm geholfen hatte. Der Vater hatte die Nachricht mit aschfahlem Gesicht aufgenommen, die Mutter hatte getobt und geschrien, sie habe immer gewusst, dass das Mädchen niederträchtig war. Und dann hatte die Polizeigarde bei der Fahndung versagt und die beiden Halbwüchsigen nicht finden können.
War es Zufall oder war es Planung? Aber wie nur hatten sie so etwas planen können? Unmöglich.
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