Das letzte Zeichen (German Edition)
Sie konnten nicht wissen, was dem Jungen bevorstand. Jedenfalls nicht, wenn Lucas es ihnen nicht erzählt hatte. Und das war unmöglich. Es war …
Er seufzte laut und klingelte nach seinem Sekretär. »Schick Lucas zu mir«, bellte er in die Sprechanlage, knapper, als er eigentlich wollte. »Bitte«, schob er gerade noch rechtzeitig nach.
»Ja, Bruder. Natürlich.«
Seine Hand glitt vom Summerknopf und fuhr an die Stirn, wo sie sich mit der Rechten verschränkte, so wie immer in solchen schwierigen und herausfordernden Momenten.
»Zeiten wie diese formen uns«, flüsterte er. »Nur an Herausforderungen können wir wachsen und unsere Persönlichkeit voll entfalten. Unsere stärkste Persönlichkeit.« Er hatte diese Worte so oft gesagt und damit so vielen Menschen Trost und Hoffnung gespendet. Und doch empfand er jetzt nur eine gärende Verbitterung, eine Wut, die ihn von innen heraus zu verzehren schien, sodass er nach Atem ringen musste.
Woher hatten sie es gewusst? Wie hatten sie eine solche Flucht planen können? Wie nur? Wie?
Es klopfte an der Tür; das Klopfen seines Sekretärs. Behutsam. Unaufdringlich. Er schätzte dieses Klopfen immer sehr.
»Schick ihn herein«, rief er. Kurz darauf trat Lucas ein.
»Bruder«, sagte der mit unbewegter Miene.
»Was hast du in Erfahrung gebracht?«, fragte der Bruder, und es gelang ihm nicht, den Überdruss in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Ich denke, sie haben es lange geplant«, sagte Lucas ernst. »Der Zeitpunkt war wohl zufällig und scheint mir eher mit der Inhaftierung meines Bruders zusammenzuhängen als mit seiner bevorstehenden Herabstufung. Wir wissen jetzt, dass er sich öfter mit dem Mädchen getroffen hat. Im System kannte er sich besser aus, als wir dachten, und er muss einen Weg gefunden haben, ihre Bewegungen vor uns zu verbergen. Ich hätte wissen müssen, dass auch das Mädchen böse ist – sie war schließlich meine Verlobte, Bruder. Ich hätte es merken müssen. Aber das habe ich nicht. Ich habe ihr geglaubt. Ich …«
Er hielt kurz inne und sammelte sich. »Sie muss in der Nacht zum Haus gekommen sein. Ich bin schuld. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte Wache halten müssen.«
»Du konntest nicht wissen, wie weit sie gehen würden«, sagte der Bruder und schüttelte den Kopf. »Du konntest nicht wissen, dass das Böse in ihnen so tief ging.«
»Nein«, antwortete Lucas, »aber ich hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen.«
Der Bruder nickte. »Vielleicht. Was noch? Sie hat den Schlüssel an sich genommen? Und wie?«
»Ihr Vater beharrt darauf, dass er ihr die Kombination nicht gezeigt hat.«
»Aber wie dann?«
»Ihre Mutter sagt, sie sei verschlagen und müsse ihn dabei beobachtet haben.«
»Beobachtet? Wann? Der Schlüssel ist seit Monaten nicht benutzt worden.«
Lucas sagte nichts, er hob nur die Augenbrauen und seine Augen sagten alles.
»Ich verstehe«, sagte der Bruder.
»Besteht Aussicht, dass wir sie finden?«, fragte Lucas.
Der Bruder schüttelte den Kopf. »Nein. Die Polizeigarde hat die Suche eingestellt. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie inzwischen entweder von wilden Tieren zerrissen oder von den Bösen getötet worden. Ich versuche, meine Herde zu beschützen, Lucas, aber die, die uns aus eigenem Entschluss verlassen, kann ich nicht beschützen.«
»Nein, Bruder.« Keine Spur von Traurigkeit, dachte der Bruder bei sich, und ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Keine einzige Träne für seinen eigenen Bruder.
»Danke, Lucas. Das wäre alles.«
»Ja, Bruder.« Lucas ging zur Tür. Dann drehte er sich kurz um. »Die Akte über Raphael. Über die Panne. Soll ich sie jetzt abschließen?«
Der Bruder nickte. Es hatte keinen Sinn mehr. Lucas öffnete die Tür. Und dann fiel dem Bruder etwas auf. Lucas biss die Kiefer aufeinander. Seine Kiefer waren nicht entspannt wie sonst, nicht entschlossen und kraftvoll, nein, er biss sie aufeinander. Angespannt.
»Aber schick sie mir«, verkündete der Bruder nachdenklich. »Ich würde sie gern hier im Büro haben, du verstehst schon.«
Lucas zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, aber gerade lange genug zur Bestätigung für den Bruder, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Sehr gut, Bruder.«
»Danke, Lucas. Danke, wie immer«, sagte der Bruder, lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und bemerkte, dass alle Schwere von ihm abgefallen war. Etwas anderes war an deren Stelle getreten, etwas, das Sinn und Energie und all die
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