Das letzte Zeichen (German Edition)
anderen Dinge spendete, die ihm in den vergangenen Tagen verloren gegangen waren.
Eine Ahnung. Wovon, das wusste er noch nicht, aber er würde es bald wissen. Und in der Zwischenzeit würde er auf der Hut sein, Augen und Ohren offen halten. Genau darum war er der Bruder.
Darum hatte er das Sagen.
14
E vie schlief nicht lange. Ihr war, als hätten sich ihre Lider gerade erst schwer über die Augen geschoben, als Raffy sie sanft schüttelte. »Sie packen zusammen«, sagte er. »Wach auf, Evie.«
Sie wollte nicht aufwachen, wollte nicht zurück in diese fremde Welt, zu ihren Kopfschmerzen und zu ihren endlos kreisenden Fragen. Doch als sie die Augen aufschlug, blickte Raffy auf sie herab, und sein gehetzter Blick kam ihr etwas weicher vor als seit ihrer Flucht aus der Stadt. Zärtlich fuhr er mit dem Finger die Linie ihres Kinns nach, strich mit dem Daumen weiter über ihre Augenbrauen und sie schloss die Augen wieder, nur für einen Moment, denn sie waren jetzt draußen im Freien, zum ersten Mal versteckten sie sich nicht, weder in einem Baum noch in einer Höhle. Sie blickten nicht über die Schulter zurück oder hatten Angst, was hinter der nächsten Ecke lauerte. Sie waren einfach nur. Sie waren hier, in der warmen Sonne, zusammen, und es kam dem Gefühl am nächsten, das sie als glücklich in Erinnerung hatte. Sie wollte diesen Moment bewahren, sich daran erinnern, wie es sich anfühlte. Denn obwohl es geschah, obwohl sie Raffy spüren konnte, seine Berührung und das Heben und Senken seiner Brust, so wusste sie doch, dass es nicht wirklich war und dass es nicht von Dauer sein konnte. Augenblicke wie dieser waren nie von Dauer; das wusste sie tief im Innern. Sie waren nur kurz da, um einem Stärke zu geben und etwas, an das man sich erinnern konnte, an dem man sich festhalten konnte, wenn wieder dunklere Tage kamen.
»Ich liebe dich, Evie«, flüsterte er, und sie spürte ein Ziehen im Herzen, ein Verlangen nach ihm, aber es war noch mehr. »Du bist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mir etwas bedeutet. Du und ich, Evie. So wird es immer sein: du und ich.«
Sie nickte, fasste ihn um den Hals, fühlte seine Küsse und drängte sich an ihn. Aber die ganze Zeit hatte sie nur einen Gedanken. Lucas. Sie musste es Raffy sagen, das mit Lucas. Sie musste ihm die Wahrheit sagen.
»Raffy«, flüsterte sie. »Raffy, es gibt da etwas …«
Doch in diesem Moment hörten sie Schritte näher kommen und jemand rief nach Raffy. Es war Linus. Die Gelegenheit war vorbei. »Hey«, rief Linus. »Hier drüben. Pack mal mit an.« Evie rappelte sich hoch, damit auch Raffy aufstehen konnte. Linus blickte sich suchend um und sagte dann zu Evie: »Du, du hilfst Martha.« Offenbar kannte er ihren Namen nicht. Er war so begierig auf Antworten gewesen, aber nach ihren Namen hatte er sie nicht gefragt.
Evie lief zu Martha hinüber, die gerade ein Zelt abbaute. Wie die Zigeuner in den Geschichten ihrer Mutter, dachte Evie, als sie die Heringe aus dem Boden zog. Nie lange an einem Ort, immer auf der Flucht. War das nun ihr neues Leben? War sie unter die Zigeuner gegangen, so wie ihre falsche Mutter immer gewarnt hatte, dass es einmal so weit kommen würde mit ihr?
Sie zog die restlichen Zeltpflöcke heraus, rollte die Bodenplane auf und faltete das Zelt zusammen, so ordentlich sie konnte. Voller Bewunderung sah sie zu, wie Martha es in einem Beutel verstaute, der eigentlich viel zu klein dafür ausgesehen hatte. Während sie zusah, fuhr sie sich mit der Hand versehentlich an die Schläfe, an die neue Narbe, die dort pochte – es war kein Schmerz, es war irgendetwas anderes, etwas, das sie nicht benennen konnte.
Und dann erkannte sie, was es war. Es war Angst. Denn trotz seines Lächelns und dem Gerede von Antworten und Erklärungen traute sie Linus nicht. Sie traute keinem von ihnen.
In Wahrheit traute sie kaum sich selbst.
»Tut dir der Kopf weh?«, fragte Martha mit einem Ausdruck von Mitgefühl.
Evie schüttelte den Kopf. »Nein. Na ja, ein bisschen. Aber es geht.« Sie wollte diese Medikamente nicht. Martha schien in Ordnung zu sein, aber Evie wollte lieber die Schmerzen fühlen, wollte lieber die ganze Wahrheit wissen, als sie mit Drogen zu verschleiern. In der Stadt gab es kaum Medikamente, denn Krankheiten hatten ihre Ursache in der Schwäche oder im Hochmut eines Menschen. Deshalb mussten Männer und Frauen ihre Krankheiten aushalten, sagte der Bruder immer, denn sonst würden sie nicht daraus lernen und nicht
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