Das Licht Von Atlantis
seltenen Stein gefertigt.« Er lächelte sein leicht verzerrtes Lächeln. »Trotzdem bin ich vermutlich nicht der einzige Prinz von Ahtarrath, der auf Reisen gegangen ist oder dem etwas gestohlen wurde. Wo hast du sie gefunden?«
Rajasta antwortete nicht. Er hatte die Statuette in diesem Gebäude, in den Unterkünften der Diener gefunden - und obwohl er sich sagte, das sei nicht unbedingt ein Indiz gegen einen der Hausbewohner, machten die Schlussfolgerungen ihn ganz krank. Denn alle von ihnen konnten jetzt als Verdächtige in Frage kommen. Riveda mochte tatsächlich so unschuldig sein, wie er behauptete; die Schuld konnte ganz woanders liegen, vielleicht sogar unter den Wächtern - bei Cadamiri oder Ragamon dem Ältesten oder Talkannon selbst! Das einmal erwachte Misstrauen hatte Rajastas Welt bis in die Grundfesten erschüttert.
Micon stellte die exquisit geschnitzte, durchscheinende Figurine behutsam auf ein Tischchen am Fenster. Nur ungern lösten sich seine Finger von ihr; sein Gesicht war traurig. »Mein armer Bruder«, flüsterte er fast unhörbar - und Rajasta war sich nicht ganz sicher, ob Micon damit ihn oder Reio-ta meinte.
In dem Gefühl, etwas sagen zu müssen, flüchtete sich der Priester des Lichts in munteres Geplauder. »Nun ist der Abend der Nadir-Nacht da, Micon, und du brauchst keine Angst zu haben. Dein Sohn wird bestimmt nicht heute nacht geboren werden. Ich komme gerade von Domaris; sie und ihre Pflegerinnen haben es mir versichert. Und sie wird fest schlafen«, fuhr Rajasta fort, »ohne aufzuwachen und ohne sich vor irgendwelchen Omina und Vorzeichen zu fürchten. Ich habe Cadamiri gebeten, ihr ein Schlafmittel zu geben...«
Rajasta stolperte ein bisschen über den Namen Cadamiri, denn seine Angst, Domaris könne ihr Kind doch in dieser Nacht zur Welt bringen, stand im Konflikt mit seinem Wunsch, Micon zu beruhigen. Der Atlanter spürte es, ohne den genauen Grund für Rajastas Nervosität zu kennen, und zuckte zusammen.
»Die Nadir-Nacht?« fragte Micon leise. »Heute? Ich hatte vergessen, die Tage zu zählen.«
Ein kurzer Windstoß drang ins Zimmer und brachte ein schwaches Echo mit, einen Gesang in klagendem Moll, mit unheimlich auf-und abschwellenden und in die Länge gezogenen Tönen. Rajasta hob die Augenbrauen und neigte lauschend den Kopf. Micon dagegen drehte sich um und ging wieder zum Fenster, nicht schnell, aber entschlossen. Sein Gesicht verriet tiefe Beunruhigung. Der Priester des Lichts trat neben ihn.
»Micon, was ist?« fragte er besorgt.
»Ich kenne diesen Gesang!« keuchte der Atlanter. »Und ich weiß, was er bedeutet -« Er hob die ausgemergelten Hände und tastete nach Rajastas Schultern. »Bleib bei mir, Rajasta! Ich -« seine Stimme schwankte. » Ich habe Angst!«
Der ältere Mann starrte ihn mit unverhohlenem Entsetzen an, froh darüber, dass Micon ihn nicht sehen konnte. Rajasta hatte mit Micon Zeiten und Dinge erlebt, die sie bis an die Grenzen menschlicher Existenz geführt hatten, aber nie hatte der Initiierte eine solche Furcht gezeigt!
»Ich werde dich nicht verlassen, mein Bruder«, versprach er - und wieder ertönte der Gesang, abgerissene Melodiefetzen, unheimlich mit dem Wind dahinschwebend, während die Sonne versank. Der Priester spürte, wie Micons Muskeln sich anspannten. Seine verkrüppelten Hände schlossen sich um Rajastas Schultern, sein edles Gesicht wurde aschfahl und zitterte, und dies Zittern kroch langsam über den ganzen Körper des Mannes hin, bis jeder Nerv vor Spannung zu vibrieren schien... Und dann ließ der Atlanter, obwohl seine Haltung und seine Züge große Angst verrieten, den Priester los, wandte sich erneut dem Fenster zu, richtete die blinden Augen auf die zunehmende Dunkelheit und lauschte angestrengt.
»Mein Bruder lebt«, sagte Micon endlich, und seine Worte waren wie Trommelschläge, die ein nahendes Verhängnis ankündigen. »Ich wollte, er wäre tot! Niemand aus dem Haus von Ahtarrath singt diese Beschwörung, außer er wäre...« Wieder erstarb seine Stimme und machte ihrem lauschenden Schweigen Platz.
Plötzlich drehte Micon sich um, legte die Stirn auf Rajastas Schultern und klammerte sich an ihn. Er wurde von so heftigen Emotionen geschüttelt, dass sie auf Rajasta übersprangen und beide Männer vor unerklärlicher, blinder Furcht bebten. Namenlose Schrecken durchgeisterten ihre Gedanken.
Der Wind dagegen hatte sich beruhigt. Der Gesang war jetzt deutlicher zu hören; die Kadenzen stiegen und fielen mit einer
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