Das Licht Von Atlantis
was es nützen mochte, die Geste einem Blinden zurückzugeben und fuhr mit größerer Offenheit fort: »Dann weißt du, wie wichtig es ist, die Sinne zu schärfen, bestimmte geistige und körperliche Kräfte auf immer höhere Bewusstseinsebenen zu heben - ohne das Muster fertig zu weben oder die Spannung abzubauen. Natürlich gibt es weniger extreme Methoden, aber du musst zugeben, dass jeder Mensch sein eigener Herr ist, und was niemand anderem schadet - nun, der Weisheit letzter Schluss ist: man kann nicht viel dagegen tun.«
Das Gesicht des Initiierten verriet, dass er anderer Meinung war; seine schmalen Lippen sahen ungewöhnlich streng aus. »Das weiß ich - einige Ergebnisse mögen derartige Prozeduren schon zeitigen«, sagte er. »Aber ich nenne solche Ergebnisse wertlos. Ganz zu schweigen von dem Problem der Frauen und dem Umgang, den ihr mit ihnen habt.« Er zögerte, versuchte, eine möglichst wenig verletzende Formulierung für seine Gedanken zu finden. »Es mag ja sein, dass ihr dabei einen gewissen Fortschritt erzielt, aber letztlich ist das, was ihr macht, eine Vergewaltigung der Natur. Die Folge ist, dass innerhalb eurer Mauern sogar Menschen in den Wahnsinn getrieben werden.
»Wahnsinn kann viele Ursachen haben«, bemerkte Riveda. »Immerhin ersparen wir Graumäntel unseren Frauen die Brutalität, sie zur Befriedigung unseres Stolzes Kinder gebären zu lassen!«
Der Atlanter überging diese Beleidigung. Er fragte ruhig: »Hast du keine Söhne, Riveda?«
Eine merkliche Pause entstand. Riveda senkte den Kopf. Er konnte sich nicht von dem absurden Gedanken freimachen, die blinden Augen dieses Mannes sähen mehr als seine eigenen gesunden.
»Wir glauben«, fuhr Micon beherrscht fort, »dass ein Mann sich seiner Pflicht entzieht, wenn er keine Söhne hinterlässt, die seinen Namen weitertragen. Und was deine Magier betrifft, so mag es sein, dass das Gute, das sie anderen tun, letzten Endes schwerer wiegt als der Schaden, den sie sich selber zufügen. Allein eines Tages mögen sie Dinge in Gang setzen, die sie weder kontrollieren noch wiedergutmachen können.« Ein seltsames Lächeln erschien auf Micons Gesicht. »Nun, es muss nicht so kommen. Auch möchte ich nicht mit dir streiten, Riveda.«
»Ich auch nicht mit dir«, erwiderte der Adept, und in der nachdrücklichen Versicherung lag mehr als bloß Höflichkeit. Er wusste, dass Micon ihm nicht ganz traute, und wollte sich keinen Feind von so hoher Stellung wie der des Atlanters machen. Ein Wort von Micon, und die Wächter konnten in den Grauen Tempel kommen, und niemand wusste besser als Riveda, dass bestimmte Praktiken seines Ordens eine genauere Untersuchung nicht vertrugen. Sie mochten vielleicht keine verbotene Zauberei darstellen - aber die Billigung der strengen Wächter würden sie sicher nicht finden. Nein, mit Micon wollte er sich lieber nicht anlegen.
Deoris und Chedan, die jetzt friedlich Seite an Seite gingen, gesellten sich ihnen wieder zu. Riveda begrüßte Deoris mit solcher Ehrerbietung, dass Chedan beinah der Unterkiefer herunterfiel.
»Micon«, sagte der Adept lakonisch, »ich werde dir Deoris wegnehmen.«
Micons dunkles, blindes Gesicht wurde starr vor Ärger, und als er es Riveda zuwandte, überkam den Atlanter die Vorahnung eines kommenden Unheils. Bestürzt fragte er: »Was meinst du damit, Riveda?«
Riveda lachte lauthals. Er wusste ganz genau, was Micon meinte, doch es machte ihm Spaß, ihn mitzuverstehen. »Was soll ich schon meinen?« fragte er. »Ich muss ein paar Minuten mit der jungen Dame sprechen, denn Karahama von Caratras' Tempel hat sie mir zur Ausbildung als Heilerin empfohlen.« Wieder lachte Riveda. »Da du aber schlecht von mir zu denken scheinst, nun, so will ich gern in deiner Anwesenheit mit ihr sprechen, Micon!«
Eine fast tödliche Mattigkeit überkam Micon und vertrieb seinen Zorn. Seine Schultern sanken herab. »Ich - ich weiß nicht, was ich gemeint habe. Ich -« Er brach ab. Er wusste selbst nicht, weshalb er so gereizt war. »Ich habe schon gehört, dass Deoris die Initiierung anstrebt. Das freut mich sehr... Geh nur, Deoris.«
Gedankenverloren ging Riveda mit dem Mädchen den Pfad entlang. Deoris war empfindsam, feinfühlig, ja äußerst sensibel; instinktiv spürte er, dass sie nicht zu den Heilern, sondern viel besser zu den Graumänteln passte. Viele Frauen des Grauen Tempels waren nur saji , verachtet oder ignoriert - aber hin und wieder wurde auch eine Frau auf dem Pfad der Magier
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