Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
vorwärtswarf und sich am eisernen Geländer festhielt.
Zum ersten Mal ließ er die Dimensionen auf sich wirken. Während er hoch über dem Meeresspiegel stand, betrachtete er gebannt, wie die See direkt unter ihm gegen die Klippen schlug. Das schwappende Wasser war milchig und zähflüssig wie weiße Farbe. Hin und wieder kam in einer Lücke im Schaum die dunkelblaue Schicht darunter in Sicht. Auf der anderen Seite der Insel bildete eine Reihe gewaltiger Felsen ein Bollwerk gegen die Brandung, sodass das Wasser dahinter so unbewegt war wie in einer Badewanne. Tom hatte das Gefühl, nicht aus dem Boden zu ragen, sondern vom Himmel herabzuhängen. Ganz langsam drehte er sich im Kreis und genoss die Leere. Es war, als würde seine Lunge nie groß genug sein, um so viel Luft einzuatmen. Seine Augen konnten dieses Übermaß an Platz nicht verarbeiten. Und er konnte das ganze Ausmaß des wogenden, dröhnenden Ozeans nicht hören. Einen kurzen Moment lang fühlte er sich entgrenzt.
Tom blinzelte und schüttelte rasch den Kopf. Er trieb auf einen Strudel zu, und um nicht hineingezogen zu werden, konzentrierte er sich auf seinen Herzschlag, auf den Boden unter seinen Füßen und seine Fersen in den Stiefeln. Er richtete sich zu voller Größe auf, suchte sich einen Fixpunkt an der Tür des Leuchtturms – ein gelockertes Scharnier – und beschloss, damit anzufangen. Mit etwas Greifbarem. Er musste sich mit etwas Greifbarem befassen, denn wer konnte wissen, wohin sein Verstand und seine Seele sonst geweht werden würden wie ein Ballon ohne Ballast? Nur so hatte er vier Jahre Blut und Wahnsinn überstanden: Wenn man im Schützengraben für zehn Minuten einnickte, musste man wissen, wo seine Waffe lag; immer die Gasmaske kontrollieren; sichergehen, dass die Untergebenen ihre Befehle bis auf den letzten Buchstaben verstanden hatten. Man dachte nicht in Kategorien von Jahren und Monaten, sondern nur an diese Stunde und vielleicht die nächste. Alles andere war Spekulation.
Er hob das Fernglas und suchte die Insel nach weiteren Lebenszeichen ab. Tom musste die Ziegen und Schafe tatsächlich sehen; sie zählen. Sich an das Konkrete halten. An die Messingbeschläge, die poliert, und die Glasflächen, die geputzt werden mussten – erst die Außenscheibe der Lampe, dann die Prismen selbst. Danach mussten die Zahnräder geölt werden, damit sie glatt liefen. Und er musste Quecksilber nachfüllen, damit die Lampe nicht ruckelte. Er griff nach jedem Gedanken wie nach den Sprossen einer Leiter, um sich wieder in die Wirklichkeit zurückzuhangeln. In sein Leben.
Als er an jenem Abend die Lampe anzündete, bewegte er sich so langsam und ehrfürchtig wie vermutlich die Priester vor Tausenden von Jahren im ersten Leuchtturm im altägyptischen Pharos. Er stieg die schmale Metalltreppe hinauf, die zu dem Drehteller der Lampe führte, und duckte sich durch die Öffnung in das Gerät. Zuerst bereitete er das Öl vor, indem er eine Flamme unter das Gefäß hielt, sodass der Inhalt verdampfte und als Gas in die Kuppel aufstieg. Dann entzündete er ein Streichholz, das den Dampf in grellweißes Licht verwandelte. Anschließend ging er eine Etage tiefer und warf den Motor an. Das Licht begann, sich in einem genau festgelegten Rhythmus von fünfsekündlichen Blitzen zu drehen. Tom nahm einen Stift und schrieb in das große, in Leder gebundene Protokollbuch: » Lampe angezündet um 17:09. Wind N/ NO , 15 Knoten. Bewölkt, stürmisch. Meer 6.« Er unterzeichnete mit seinen Initialen: » T. S .« Seine Handschrift übernahm und erzählte die Geschichte weiter, an der Whittnish vor nur wenigen Stunden und vor ihm Docherty gearbeitet hatten – er war ein Glied in der niemals abreißenden Kette von Leuchtturmwärtern, die das Licht bewachten.
Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit erledigt war, kehrte er in sein Häuschen zurück. Sein Körper sehnte sich nach Schlaf, aber er wusste nur zu gut, dass man nicht arbeiten kann, wenn man nicht isst. In der Speisekammer neben der Küche standen Dosen mit Corned Beef, Erbsen und Birnen neben Ölsardinen und Zucker und einem großen Glas mit gestreiften Pfefferminzbonbons, für die die verstorbene Mrs. Docherty berüchtigterweise eine Schwäche gehabt hatte. Toms erstes Abendessen bestand aus einem großen Stück Brot, zurückgelassen von Whittnish, einem Stück Cheddar und einem schrumpeligen Apfel.
Die Flamme der Öllampe auf dem Küchentisch flackerte immer wieder. Der Wind setzte, begleitet vom
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