Das Lied der Luege
werden könnte. Erst um 2:17 Uhr am Morgen des 15. Aprils 1912, als die Bordkapelle ihr Spiel abbrach und als eine Minute später alle beweglichen Teile zum Bug rutschten und das Schiff begann, sich steil aufzurichten, begriffen die Menschen, dass es keine Rettung mehr gab. Die meisten Opfer kamen nicht ums Leben, weil sie im Schiffsrumpf ertranken oder von Gegenständen erschlagen wurden, sondern sie erfroren im eiskalten Wasser des Atlantiks.
Dass Susan nach diesem Erlebnis schwer traumatisiert war und nur unter großer Willenskraft wieder ein Schiff betrat, ist, glaube ich, durchaus verständlich.
Bereits im Jahr 1907 trifft Susan erstmals auf
Emmeline Pankhurst
(1858–1928), misst dieser Begegnung aber keine große Bedeutung bei. Obwohl das Frauenwahlrecht damals schon in aller Munde war und die
Women’s Social and Political Union ( WSPU )
regelmäßig mit Reden und Protesten auf sich aufmerksam machte, begann die Hauptzeit der englischen Suffragetten erst ab dem Jahr 1912. Wie meine Protagonistin Susan bin ich der Meinung, dass die zahlreichen Gewalttaten, mit denen die Frauen versuchten, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, nicht gerechtfertigt waren. Besonders Emmelines zweite Tochter
Estelle Sylvia Pankhurst
(1882–1960) vertrat den Standpunkt, dass nur mit massiven Mitteln wie Brand- und Bombenanschlägen und tätlichen Angriffen auf öffentliche Einrichtungen, Kirchen und Häuser von Parlamentsabgeordneten das Frauenwahlrecht durchzusetzen wäre. Dies spaltete beinahe die
WSPU
und endete mit Sylvia Pankhursts Ausschluss aus der Vereinigung. Daraufhin schloss sie sich der linkskommunistischen Bewegung an und tendierte später von der Kommunistischen Partei weg, hin zum Antifaschismus und Antikolonialismus.
Da der
WSPU
Tausende Frauen aus ganz England angehörten und viele von ihnen ehrenamtlich oder für ein kleines Entgelt für die Partei arbeiteten, ist es durchaus möglich, dass Susan Kontakt zu Emmeline Pankhurst hatte, zumal Mrs. Pankhurst auch regelmäßig öffentliche Reden hielt. Durch Susans engagierte Art und ihren Willen, etwas für die Gleichberechtigung der Frauen zu tun, ist es nachvollziehbar, dass sie eine führende Rolle in der
WSPU
übernahm, zumal ihr hier ihre frühere Popularität als Schauspielerin und Überlebende der
Titanic
zugutekam.
Den in meiner Geschichte geschilderten Aufmarsch am Tag der Parlamentseröffnung 1912 hat es ebenso wenig gegeben wie die tragische Geschichte von Lucy Sheldon und die damit verbundene Demonstration. Auch der Brandanschlag auf das Gebäude Downing Street No. 10 entspringt meiner Fantasie. Allerdings veranstalteten die Suffragetten regelmäßig Paraden und Aufmärsche in der von mir geschilderten Art und Weise, die häufig in einem Chaos und mit der Inhaftierung zahlreicher Frauen endeten. Ebenfalls historisch fundiert sind die Umstände, unter denen die Suffragetten in den Gefängnissen behandelt wurden, die Hungerstreiks der Frauen und die schrecklichen Zwangsernährungen, unter denen Hunderte von Frauen in ganz England zu leiden hatten. Allein Emmeline Pankhurst wurde mindestens ein Dutzend Mal verhaftet. Eine genaue Zahl ließ sich leider nicht recherchieren, da nicht alle ihrer Gefängnisaufenthalte dokumentiert wurden. Ihr Gesundheitszustand war jedoch durch die zahlreichen Inhaftierungen und Zwangsernährungen derart angeschlagen, dass sie sich davon niemals wieder vollständig erholte und für den Rest ihres Lebens immer wieder unter starken Beeinträchtigungen zu leiden hatte.
Bei Kriegsausbruch 1914 sah Mrs. Pankhurst von weiteren Aktionen ab, setzte sich stattdessen für Kriegsanstrengungen ein und dafür, dass Frauen die gleichen Berufe wie Männer ausüben dürfen. Dies war während des 1. Weltkrieges auch vonnöten, da ein Großteil der Männer als Soldaten ihrem Land dienten. Zwischen 1914 und 1917 ruhte weitgehend die Arbeit der
WSPU
, und im Februar 1918 erhielten alle Frauen, die älter als dreißig Jahre waren und über ein eigenes Einkommen verfügten, das aktive, im Dezember desselben Jahres auch das passive Wahlrecht.
Ab Ende 1919 lebte Emmeline Pankhurst mit vier minderjährigen Adoptivtöchtern in den USA , verbrachte 1925 aus gesundheitlichen Gründen einige Zeit auf den Bermudas, bevor sie an der Côte d’Azur eine Teestube eröffnete. Dort verbrachten viele Briten ihre Ferien, Mrs. Pankhurst galt als ehemalige Suffragette jedoch für nicht gesellschaftsfähig. Sie musste ihre Teestube wieder schließen
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